JurPC Web-Dok. 71/2024 - DOI 10.7328/jurpcb202439572

Thüringer Verfassungsgerichtshof

Beschluss vom 03.04.2024

107/20

Vorlage von Rohmessdaten

JurPC Web-Dok. 71/2024, Abs. 1 - 47


Orientierungssätze:

1a. Art 88 Abs 1 S 2 ThürVerf (RIS: Verf TH) gewährleistet für das Strafverfahren über den Anspruch auf rechtliches Gehör hinaus, sich zu verteidigen. Art 88 Abs 1 S 3 Verf TH gewährleistet für alle gerichtlichen Verfahren, sich eines rechtlichen Beistandes bedienen zu können.

1b. Das inhaltlich mit seiner grundgesetzlichen Gewährleistung deckungsgleiche Rechtsstaatsprinzip des Art 44 Abs 1 S 2 Verf TH garantiert iVm dem allgemeinen Freiheitsrecht des inhaltsgleich zu Art 2 Abs 1 GG ausgestalteten Art 3 Abs 2 Verf TH das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren. Dieses Verfassungsgebot ist nicht nur Regelungsauftrag an den Gesetzgeber. Es ist auch Leitlinie für die Gerichte, die den Strafprozess mit seinen möglichen weitreichenden Folgen für Beschuldigte nicht auf eine Weise führen dürfen, dass sie zum bloßen Objekt des Verfahrens werden. Dem ist nur genügt, wenn Beschuldigte nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung ihrer Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (VerfGH Weimar, 12.11.2002, 12/02 <RIS Rn 21>). Dieser Maßstab gilt auch für Ordnungswidrigkeitenverfahren (vgl BVerfG, 20.06.2023, 2 BvR 1167/20 <RIS Rn 32ff>).

2. Hier:

2a. Der VerfGH macht sich die vom BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss (20.06.2023, 2 BvR 1167/20 <Rn 37ff>) formulierten Maßstäbe zu eigen.

aa. Danach ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn Fachgerichte in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgehen (vgl BVerfG, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18 <Rn 39ff>).

bb. Um dem aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierenden Gedanken der "Waffengleichheit" hinreichend Rechnung zu tragen, ist es denkbar, dass der Betroffene aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen "Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu − zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde − vorhandenen Informationen verlangen kann (vgl hierzu BVerfG, 12.11.2020, 2 BvR 1616/18 <Rn 50ff>). Ob auch "Rohmessdaten" zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden (BVerfG aaO <Rn 58>).

2b. Im Hinblick darauf kommt eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren nicht in Betracht, weil die begehrten Rohmessdaten auch bei der Behörde nicht vorhanden und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen worden sind.

Gründe:

I.Abs. 1
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Gera vom 1. Oktober 2019, Az. 14 OWi 260 Js 12465/19, und gegen den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 28. September 2020, Az. 1 OLG 121 Ss Bs 130/19.Abs. 2
1. Die Stadt Gera setzte gegenüber dem Beschwerdeführer mit Bußgeldbescheid vom 28. Januar 2019 eine Geldbuße in Höhe von 160,00 Euro fest und ordnete ein Fahrverbot für die Dauer von einem Monat an. Dem Beschwerdeführer wurde zur Last gelegt, eine Ordnungswidrigkeit begangen zu haben, indem er am 8. November 2018 um 19.06 Uhr in G..., B... Straße, als Führer eines Personenkraftwagens die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften nach Toleranzabzug um 33 km/h überschritten habe. Als Beweismittel waren im Bescheid zwei Zeugen sowie zwei von einem mobilen Geschwindigkeitsmessgerät des Typs „PoliScan Speed“ erstellte Lichtbilder aufgeführt.Abs. 3
2. Gegen den Bußgeldbescheid legte der Beschwerdeführer am 8. Februar 2019 Einspruch ein. Vor dem mit der Sache befassten Amtsgericht Gera bestritt er die ihm zur Last gelegte Geschwindigkeitsübertretung und beanstandete, dass die Daten, aus denen das Geschwindigkeitsergebnis gebildet werde, ihm mangels Speicherung nicht zur Verfügung gestellt worden seien. Unter Bezugnahme auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 5. Juli 2019 (Az. Lv 7/17) machte er geltend, der Ausschluss einer Überprüfbarkeit der Geschwindigkeitsmessung aufgrund fehlender Speicherung der Rohmessdaten stelle eine verfassungswidrige Beschränkung seines Rechts auf eine wirksame Verteidigung dar.Abs. 4
Das Amtsgericht lehnte den in der Hauptverhandlung vom 1. Oktober 2019 gestellten Antrag des Beschwerdeführers auf Aussetzung der mündlichen Verhandlung und Beiziehung sowie Zurverfügungstellung der vollständigen Rohmessdaten wegen Unmöglichkeit ab. Nachdem der Beschwerdeführer daraufhin der Verwertung der Geschwindigkeitsmessung widersprach, die Sachleitung des Vorsitzenden beanstandete und beantragte, hierüber durch Gerichtsbeschluss zu entscheiden, wies das Gericht die Rüge der Sachleitung mit der Begründung als unzulässig zurück, dass die Entscheidung über die Verwertung eines Beweismittels keine Maßnahme der richterlichen Sachleitung sei. Das Amtsgericht verurteilte den Antragsteller wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 33 km/h zu einer Geldbuße in Höhe von 160,00 Euro und verhängte ein einmonatiges Fahrverbot. Die Geschwindigkeitsmessung mit diesem Geschwindigkeitsüberwachungsgerät sei ein standardisiertes Messverfahren im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Das Gericht habe sich von der Richtigkeit der Geschwindigkeitsmessung durch die erfolgte Beweisaufnahme, aus der sich keine Anhaltspunkte für etwaige Messfehler ergeben hätten, überzeugt.Abs. 5
3. Die vom Beschwerdeführer gegen das amtsgerichtliche Urteil eingelegte Rechtsbeschwerde verwarf das Thüringer Oberlandesgericht mit Beschluss vom 28. September 2020, welcher dem Beschwerdeführer am 30. September 2020 zuging. Zur Begründung nahm das Thüringer Oberlandesgericht umfassend Bezug auf die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 2. Dezember 2019 und verwies unter Bezugnahme auf den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 23. September 2020 im Verfahren 1 OLG 171 SsRs 195/19 darauf, dass sich der Senat der außerhalb des Saarlandes in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte einheitlich vertretenen Auffassung angeschlossen habe, dass die Verwertbarkeit der Ergebnisse eines standardisierten Messverfahrens nicht von dessen nachträglicher Überprüfbarkeit anhand von Rohmessdaten abhängig sei und weder der Anspruch auf ein faires Verfahren noch der auf eine effektive Verteidigung berührt seien.Abs. 6
4. Mit der am 16. Oktober 2020 beim Thüringer Verfassungsgerichtshof eingegangenen Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, durch das Urteil des Amtsgerichts vom 1. Oktober 2019 und den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 30. September 2020 in seinem Recht auf wirksame Verteidigung nach Art. 88 Abs. 1 Satz 3 der Verfassung des Freistaats Thüringen (ThürVerf) und in seinem Recht auf unbeschränkte Verteidigung nach Art. 88 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf verletzt zu sein.Abs. 7
Das Recht auf wirksame Verteidigung gewährleiste, dass ein Betroffener zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss nehmen könne. Dazu müsse er die Möglichkeit haben, den Messwert zu erschüttern, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vortrage. Ein Gericht dürfe zwar aus der Akte ersichtliche Anhaltspunkte für Messfehler nicht ignorieren, die Akte enthalte jedoch nicht die notwendigen technischen Unterlagen und Daten. Somit könnten Anhaltspunkte für Messfehler allenfalls durch Vortrag des Betroffenen eingebracht werden. Dazu müsse er aber in der Lage sein, von Messfehlern Kenntnis zu nehmen. Messfehler seien nicht ausgeschlossen und (falls sie vorlägen) könne dies am ehesten durch eine sachverständige Auswertung der Rohmessdaten festgestellt werden. Daher geböten das Recht auf eine wirksame Verteidigung sowie das Recht auf ein faires Verfahren, einem Betroffenen auf Antrag die tatvorwurfrelevanten Messdaten oder Messunterlagen zur Verfügung zu stellen. Ansonsten wäre die aus dem standardisierten Messverfahren resultierende widerlegliche Vermutung der Richtigkeit des Messergebnisses eine Richtigkeitsfiktion. Zu beachten sei auch der Ablehnungsgrund des § 77 Abs. 2 Nr. 1 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG), welcher die Ablehnung eines Beweisantrages bereits dann ermögliche, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sei. Der Bundesgerichtshof nehme hinsichtlich der Blutalkoholbestimmung ein Recht des Beschuldigten oder Betroffenen auf Mitteilung der Einzelwerte einer Blutanalyse an, selbst wenn diese nicht in der Akte enthalten seien. Auch im Strafverfahren müssten somit die Ergebnisse der Anwendung entsprechender Messverfahren nicht hingenommen werden. Für Bedenken, dass entsprechende Einsichtnahmen zu einer übermäßig langen Verfahrensdauer führten, bestehe kein Grund. Der Verstoß gegen das Recht auf eine wirksame Verteidigung liege darin, dass ein Messgerät verwendet worden sei, das Rohmessdaten nicht speichere und das Amtsgericht sowie das Oberlandesgericht unter Anwendung der Grundsätze des standardisierten Messverfahrens von einem nicht widerlegten und damit zutreffenden Messergebnis ausgegangen seien. Da die Rohmessdaten nicht gespeichert worden seien, habe es aber keine Möglichkeit gegeben, das Messergebnis zu widerlegen.Abs. 8
Auch das Recht auf eine unbeschränkte Verteidigung sei verletzt, indem das Amtsgericht und das Thüringer Oberlandesgericht die Messung ohne Überlassung der vollständigen Messdaten an den Beschwerdeführer als ordnungsgemäß bewertet hatten. Zu diesem Recht gehöre, sich mit den von den Strafverfolgungs- und Bußgeldbehörden aufgeführten Beweismitteln auseinandersetzen und „Waffengleichheit“ einfordern zu dürfen. Dazu gehöre auch, die tatsächlichen Grundlagen des erhobenen Vorwurfs auf Validität prüfen zu dürfen. Dieses Recht sei vom Amtsgericht und durch das Thüringer Oberlandesgericht nicht gewährleistet worden.Abs. 9
5. Mit Antragsschrift vom 16. Oktober 2020 hat der Beschwerdeführer beim Thüringer Verfassungsgerichtshof zudem beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Wirksamkeit des vom Amtsgericht mit Urteil vom 1. Oktober 2019 gegen den Beschwerdeführer festgesetzten Fahrverbotes bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat den Antrag durch Beschluss vom 11. Januar 2021 abgelehnt (ThürVerfGH, Beschluss vom 11. Januar 2021 - VerfGH 109/20 -).Abs. 10
6. Mit weiteren Schriftsätzen vom 16. Dezember 2020, vom 15. Januar 2021 sowie vom 12. September 2023 hat der Beschwerdeführer auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Herausgabe von Rohmessdaten verwiesen.Abs. 11
Mit der Entscheidung vom 20. Juni 2023 (Az. 2 BvR 1167/20 - juris) habe das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde mit der im Kern gleichen Rechtsfrage nicht zur Entscheidung angenommen, da sie insbesondere nicht hinreichend substantiiert begründet worden sei. Das Bundesverfassungsgericht erläutere jedoch nicht, wie ein Betroffener konkrete Anhaltspunkte für eine technische Fehlfunktion eines Messgerätes ohne gespeicherte Rohmessdaten darlegen solle. Verfahrensfairness bedeute auch, dass von zwei technisch geeigneten Möglichkeiten nicht diejenige gewählt werde, die das Recht des Betroffenen auf Nachprüfung der Messung vereitele oder erschwere. Es bedürfe entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keiner Fortentwicklung der Rechtsprechung zum Grundrecht auf ein faires Verfahren, denn bereits die im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 (Az. 2 BvR 1616/18 - juris), aufgestellten Maßstäbe seien auf das vorliegende Verfahren übertragbar. Das Bundesverfassungsgericht habe im Beschluss vom 12. November 2020 entschieden, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht eines Betroffenen folge, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden, aber nicht zur Akte genommen worden seien. Vorliegend seien die Messdaten zwar zum Zweck der Ermittlung entstanden – der maßgebliche Zeitpunkt sei die Vornahme der Geschwindigkeitsmessung –, sie seien aber mangels Speicherung nicht zur Akte genommen worden. Der Verfassungsgerichtshof des Saarlandes habe nachgewiesen, dass die Prüfung der Plausibilität der konkreten Messung anhand der Rohmessdaten möglich sei. Der Beschwerdeführer stellt zu dieser Tatsache einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens.Abs. 12
7. Die Anhörungsberechtigte hatte Gelegenheit, zur Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen.Abs. 13
II.Abs. 14
Der nach § 34 des Gesetzes über den Thüringer Verfassungsgerichtshof (Thüringer Verfassungsgerichtshofsgesetz - ThürVerfGHG -) bestellte Ausschuss kommt einstimmig zu dem Ergebnis, dass die Verfassungsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen ist. Er trifft seine Entscheidung nach § 34 Abs. 1, Abs. 3 ThürVerfGHG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss.Abs. 15
Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unbegründet. Dar Urteil des Amtsgerichts Gera vom 1. Oktober 2019, Az. 14 OWi 260 Js 12465/19, sowie der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts vom 28. September 2020, Az. 1 OLG 121 Ss Bs 130/19, verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten, grundrechtsgleichen oder staatsbürgerlichen Rechten.Abs. 16
Der Beschwerdeführer rügt, durch das Urteil des Amtsgerichts und den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts in seinem Recht auf wirksame Verteidigung nach Art. 88 Abs. 1 Satz 3 ThürVerf und in seinem Recht auf unbeschränkte Verteidigung nach Art. 88 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf verletzt zu sein.Abs. 17
1. Der Beschwerdeführer wird durch das Urteil des Amtsgerichts und den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts nicht in seinem Recht auf wirksame Verteidigung verletzt.Abs. 18
Art. 88 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf gewährleistet für das Strafverfahren über den Anspruch auf rechtliches Gehör hinaus, sich zu verteidigen. Art. 88 Abs. 1 Satz 3 ThürVerf gewährleistet für alle gerichtlichen Verfahren, sich eines rechtlichen Beistandes bedienen zu können. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof ist trotz des Umstands, dass die geltend gemachten Verletzungen der Thüringer Verfassung bei der Anwendung von Bundesrecht erfolgt sein sollen, nicht an einer Sachprüfung gehindert. Landesverfassungsgerichte können das von Gerichten des betreffenden Bundeslandes durchgeführte Verfahren jedoch nur dann daraufhin überprüfen, ob durch die konkrete Verfahrensgestaltung die in der Landesverfassung gewährleisteten Verfahrensgrundrechte verletzt wurden, wenn das Landesverfassungsrecht inhaltlich mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland deckungsgleich ist (ThürVerfGH, Beschluss vom 12. September 2018 - VerfGH 28/17 - juris Rn. 24). Art. 88 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 ThürVerf gehen dem Wortlaut nach über das Grundgesetz hinaus. Das Bundesverfassungsgericht erkennt in seiner Judikatur jedoch ebenfalls das Recht auf Waffengleichheit und mithin grundlegende Verteidigerrechte an.Abs. 19
Mit Nichtannahmebeschluss vom 20. Juni 2023 (Az. 2 BvR 1167/20 - juris Rn. 37-47) hat das Bundesverfassungsgericht anhand der folgenden Maßstäbe entschieden:Abs. 20
„aa) Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, wenn Fachgerichte in einem Ordnungswidrigkeitenverfahren von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 39 ff.).Abs. 21
(1) Bei einem standardisierten Messverfahren handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind, wobei dies nicht bedeutet, dass die Messung in einem voll automatisierten, menschliche Handhabungsfehler praktisch ausschließenden Verfahren stattfindet (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 41, unter Hinweis auf BGHSt 43, 277 <284>). Regelmäßig werden technische Messsysteme, deren Bauart von der PTB zur Eichung zugelassen ist, von den Gerichten als standardisierte Messverfahren insbesondere bei Geschwindigkeitsmessungen anerkannt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 41 m.w.N.).Abs. 22
Kommt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 42, unter Verweis auf BGHSt 39, 291; 43, 277). Denn die Zulassung durch die PTB bietet bei Verwendung des Messgerätes im Rahmen der Zulassungsvorgaben nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich eine ausreichende Gewähr dafür, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Bedingungen für den Einsatz auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefert (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 42 m.w.N.). Wie bei allen technischen Untersuchungsmethoden, insbesondere solchen, die in Bereichen des täglichen Lebens außerhalb von Laboratorien durch "angelerntes" Personal gewonnen werden, ist auch bei standardisierten Messverfahren eine absolute Genauigkeit, also eine sichere Übereinstimmung mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit, nicht möglich; das Tatgericht muss sich deshalb bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmessgeräten bewusst sein, dass Fehler nicht auszuschließen sind und es hat diesem Umstand durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 42, unter Hinweis auf BGHSt 39, 291 <301>).Abs. 23
Davon abgesehen ist das Tatgericht nur dann gehalten, das Messergebnis zu überprüfen und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 43, unter Hinweis auf BGHSt 39, 291 <301>; 43, 277 <283 f.>). Wurde das Messgerät von seinem Bedienpersonal standardmäßig, also in geeichtem Zustand gemäß der Betriebsanleitung des Herstellers und den Zulassungsbedingungen der PTB entsprechend verwendet, ist das Tatgericht auch von weiteren technischen Prüfungen, insbesondere zur Funktionsweise des Messgerätes, freigestellt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3 Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 43 m.w.N.).Abs. 24
Die amtliche Zulassung von Messgeräten sowie die Reduzierung des gemessenen Wertes um einen - systemimmanente Messfehler erfassenden - Toleranzwert dient dem Zweck, Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und der Erörterung des Regelfalles zu entlasten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 44 m.w.N.). Bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit des Messergebnisses, genügt deshalb zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes grundsätzlich die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berücksichtigten Toleranzwertes (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 44 m.w.N.). Bei standardisierten Messverfahren sind daher im Regelfall - ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler - die Feststellungs- und Darlegungspflichten des Tatgerichts reduziert (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 -2 BvR 1616/18 -, Rn. 44 m.w.N.). Regelmäßig umfasst der Akteninhalt der Bußgeldakte deshalb lediglich diejenigen Informationen, die zur Feststellung des Geschwindigkeitsverstoßes nach den Grundsätzen zum standardisierten Messverfahren entscheidungserheblich sind (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 44 m.w.N.).Abs. 25
(2) Dabei bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Durch das Stellen von Beweisanträgen, Beweisermittlungsanträgen und Beweisanregungen hat der Betroffene ausreichende prozessuale Möglichkeiten, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 45 m.w.N.).Abs. 26
Für einen erfolgreichen Beweisantrag muss der Betroffene konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen, wohingegen die bloß allgemeine Behauptung, die Messung sei fehlerhaft gewesen, das Gericht nicht zur Aufklärung anhält (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 46 m.w.N.). Gleiches gilt für pauschale Behauptungen des Betroffenen ins Blaue hinein, etwa, dass das Messgerät nicht richtig funktioniert habe, die Gebrauchsanweisung nicht eingehalten oder nachträglich Eingriffe an dem Gerät vorgenommen worden seien (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 46 m.w.N.).Abs. 27
(3) Mit der Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsverstößen wird gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht jedes Amtsgericht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüfen muss. Die damit verbundene Vereinfachung des Verfahrensgangs ist bei derartigen Bußgeldverfahren indiziert (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 48 m.w.N.). Das Bußgeldverfahren als solches ist gerade im Hinblick auf seine vorrangige Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens auf eine Vereinfachung des Verfahrensgangs und eine schnelle Erledigung ausgerichtet (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 48 m.w.N.). Anders als das Strafverfahren dient es nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung, der der Ernst der staatlichen Strafe fehlt (vgl. BVerfGE 27, 18 <33 m.w.N.>; 45, 272 <288 f.>). Es ist von Verfassungs wegen deshalb auch nicht zu beanstanden, wenn dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 48, unter Hinweis auf BVerfGE 45, 272 <289> zu Sonderregelungen im Bußgeldverfahren).Abs. 28
bb) Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert "Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits, weshalb der Beschuldigte ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen hat, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 50, unter Verweis auf BVerfGE 110, 226 <253>). Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Januar 1983 (BVerfGE 63, 45) zu sogenannten Spurenakten gehört hierzu auch der Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, die dem Gericht durch die Verfolgungsbehörde nicht vorgelegt wurden und deren Beiziehung seitens des Fachgerichts unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet wird (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 50 ff., unter Verweis auf BVerfGE 63, 45 <66 ff.>). Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auch auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 53 f.).Abs. 29
Dabei gilt das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten nicht unbegrenzt, weil andernfalls die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs bestünde (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 56). Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 57). Die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte haben im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das den Geschwindigkeitsverstoß betreffende Zugangsgesuch der Verteidigung in Bezug auf die angeforderten Informationen innerhalb dieses Rahmens hält; eine generell-abstrakte, über den Einzelfall hinausgehende Festlegung des Umfangs des Informationszugangs und der Modalitäten seiner Gewährung durch das Bundesverfassungsgericht ist insoweit weder möglich noch von Verfassungs wegen geboten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 58).Abs. 30
Der Gewährung eines solchen Informationszugangs können zudem gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder auch schützenswerte Interessen Dritter widerstreiten (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 59, unter Hinweis auf BVerfGE 63, 45 <66>). Auch müssen unter dem Gesichtspunkt der "Waffengleichheit" in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Verfolgungsbehörde und Verteidigung nicht in jeder Beziehung ausgeglichen werden (vgl. BVerfGE 63, 45 <67>; 122, 248 <275>).“Abs. 31
Der Thüringer Verfassungsgerichtshof macht sich die vom Bundesverfassungsgericht im Nichtannahmebeschluss vom 20. Juni 2023 formulierten Maßstäbe zu eigen.Abs. 32
2. Der Beschwerdeführer wird durch das Urteil des Amtsgerichts und den Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts auch nicht in seinem Recht auf ein faires Verfahren verletzt.Abs. 33
Das Bundesverfassungsgericht hat im Zusammenhang mit dem Zugang zu Rohmessdaten auf das Recht auf ein faires Verfahren abgestellt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, juris Rn. 32 ff.). Auch der Beschwerdeführer erwähnt in seiner Argumentation dieses Recht. Der Thüringer Verfassungsgerichtshof zieht daher als Prüfungsmaßstab für die Rüge des Beschwerdeführers das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 44 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 3 Abs. 2 ThürVerf heran.Abs. 34
Das inhaltlich mit seiner grundgesetzlichen Gewährleistung deckungsgleiche Rechtsstaatsprinzip des Art. 44 Abs. 1 Satz 2 ThürVerf garantiert in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht des inhaltsgleich zu Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ausgestalteten Art. 3 Abs. 2 ThürVerf das Recht des Beschuldigten auf ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren. Dieses Verfassungsgebot ist nicht nur Regelungsauftrag an den Gesetzgeber. Es ist auch Leitlinie für das Strafverfahren im Rahmen der von der Strafprozessordnung vorgegebenen Regeln gestaltende Gerichte, die den Strafprozess mit seinen möglichen weitreichenden Folgen für Beschuldigte nicht auf eine Weise führen dürfen, dass sie zum bloßen Objekt des Verfahrens werden. Dem ist nur genügt, wenn Beschuldigte nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich die Möglichkeit erhalten, zur Wahrung ihrer Rechte aktiv auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (ThürVerfGH, Beschluss vom 12. November 2002 - VerfGH 12/02 -, juris Rn. 21). Dieser Maßstab gilt auch für Ordnungswidrigkeitenverfahren (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 20. Juni 2023 - 2 BvR 1167/20 -, juris Rn. 32 ff.).Abs. 35
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren ein Informationszugangsrecht zu nicht in der Bußgeldakte befindlichen Informationen resultiert, sofern die begehrten Daten an anderer Stelle tatsächlich vorhanden sind (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, juris Rn. 49). Vorliegend waren jedoch die begehrten Rohmessdaten weder in der Bußgeldakte noch an anderer Stelle verfügbar.Abs. 36
Die Ausführungen in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juni 2023 (Az. 2 BvR 1167/20) sowie die Parallelentscheidungen vom 21. Juni 2023 (Az. 2 BvR 1082/21, 1090/21) sind auf den vorliegenden Fall übertragbar. Das Bundesverfassungsgericht hat im Nichtannahmebeschluss vom 20. Juni 2023 (Az. 2 BvR 1167/20 - juris, Rn. 48 ff.) ausgeführt:Abs. 37
„c) Vorliegend zeigt der Beschwerdeführer nicht die Möglichkeit auf, durch das Urteil des Amtsgerichts in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) verletzt zu sein, weil das Amtsgericht unter Anwendung der Beweiserleichterungen eines standardisierten Messverfahrens einen − wie er behauptet − aus gelöschten "Rohmessdaten" errechneten Messwert verwertet habe.Abs. 38
Zur Begründung führt der Beschwerdeführer im Kern aus, dass die vom Recht auf Einsicht erfassten Rohmessdaten ein naheliegendes Beweismittel für die Überprüfung des Messergebnisses darstellten, durch dessen Vernichtung notwendige Verteidigungsrechte unterlaufen und der Grundsatz der Waffengleichheit konterkariert würde. Aus dem Recht auf Einsicht in die Messunterlagen folgert er, dass die zuständigen Behörden bei der Verkehrsüberwachung eine Gewähr für eine spätere tatsächlich mögliche Wahrung von Verteidigungsrechten bieten müssten, indem sie (nur) Messgeräte, deren Software Rohmessdaten erhalte, zuließen und einsetzten; beim Einsatz anderer Geräte dürften die Verfolgungsbehörden oder Gerichte die Vereinfachungen des standardisierten Messverfahrens nicht mehr zur Anwendung bringen.Abs. 39
Diese Argumentation des Beschwerdeführers greift zu kurz. Zwar ist denkbar, dass der Beschwerdeführer aus Gründen der verfassungsrechtlich gebotenen "Waffengleichheit" zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Betroffenen in einem Bußgeldverfahren andererseits auch Zugang zu − zwar nicht in der Bußgeldakte, aber bei der Bußgeldbehörde − vorhandenen Informationen verlangen kann (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 50 ff.). Ob auch die vom Beschwerdeführer bezeichneten "Rohmessdaten" zu diesen herauszugebenden Informationen zählen können, haben die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte im Einzelfall zu entscheiden (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 58).Abs. 40
Der Beschwerdeführer schlussfolgert jedoch, der aus dem Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren resultierende Gedanke der Waffengleichheit gebiete es darüber hinaus, dass die zuständigen Behörden nur Geräte einsetzen, die sogenannte "Rohmessdaten" erheben. Damit verlangt er ein Mehr im Vergleich zur bloßen Herausgabe von vorhandenen Informationen, weil nach seinem Vorbringen auch die Bußgeldbehörde nicht im Besitz der von ihm bezeichneten "Rohmessdaten" ist. Der Beschwerdeführer legt insofern nicht substantiiert dar, dass aus dem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf ein faires Verfahren − aus Gründen der "Waffengleichheit" oder in sonstiger Hinsicht − auch eine staatliche Pflicht folgt, potentielle Beweismittel zur Wahrung von Verteidigungsrechten vorzuhalten beziehungsweise zu schaffen. Dies gilt erst recht in Anbetracht der besonderen Substantiierungsanforderungen im Falle von Handlungspflichten der öffentlichen Gewalt (vgl. etwa BVerfGE 56, 54 <80 f.>; 77, 170 <214 f.>; 158, 170 <190 ff. Rn. 48 ff.>; 160, 79 <104 f. Rn. 69 ff.>; BVerfGK 14, 192 <199 ff.>; 20, 320 <324 f.> zur Darlegung von Schutzpflichtverletzungen) und der vom Beschwerdeführer geforderten Ausweitung der Verteidigungsrechte im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf ein faires Verfahren. Auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung wird nahezu einhellig abgelehnt, dass aus dem Recht auf gleichmäßigen Zugang zu vorhandenen Beweismitteln auch ein Recht auf Vorhaltung beziehungsweise Schaffung potentieller Beweismittel folge und wird das standardisierte Messverfahren nach den allgemeinen Grundsätzen auch bei nicht vorhandenen Rohmessdaten zur Anwendung gebracht (vgl. etwa KG, Beschluss vom 2. Oktober 2019 - 3 Ws (B) 296/19, 3 Ws (B) 296/19 - 162 Ss 122/19 -, juris, Rn. 3 ff. m.w.N. und Beschluss vom 5. April 2020 - 3 Ws (B) 64/20, 3 Ws (B) 64/20 - 122 Ss 21/20 -, juris, Rn. 14 ff. m.w.N.; BayObLG, Beschluss vom 9. Dezember 2019 - 202 ObOWi 1955/19 -, juris, Rn. 5 ff. m.w.N.; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 8. Januar 2020 - 3 Rb 33 Ss 763/19 -, juris, Rn. 18 ff. m.w.N.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. März 2020 - IV-2 RBs 30/20 -, juris, Rn. 4 ff. und Rn. 17 m.w.N.; OLG Koblenz, Beschluss vom 17. November 2020 - 1 OWi 6 SsRs 271/20 -, juris, Rn. 22 ff. m.w.N.; hierzu nunmehr auch VerfGH RP, Beschluss vom 22. Juli 2022 - VGH B 30/21 -, Rn. 33 m.w.N.; abweichend hiervon kann nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes das Recht auf effektive Verteidigung es gebieten, "Rohmessdaten" als Grundlage eines standardisiert ermittelten Messergebnisses zu speichern unter der Voraussetzung, dass − und hiervon geht der Verfassungsgerichtshof im zu entscheidenden Fall aus − zuverlässige Verteidigungsmittel fehlen und eine Speicherung technisch möglich sowie zur Verifizierung des Messvorgangs geeignet ist, vgl. VerfGH Saarland, Urteil vom 5. Juli 2019 - Lv 7/17 -, juris, Rn. 96 ff.).Abs. 41
Der Beschwerdeführer versäumt es insoweit auch, sich mit den Maßstäben und Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung vom 12. November 2020 (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -) hinreichend auseinanderzusetzen. Er rekurriert im Rahmen seiner Stellungnahme im November 2021 lediglich auf sein ursprüngliches Beschwerdevorbringen und bekräftigt, dass sein Einsichtsrecht in entstandene Rohmessdaten leerliefe, wenn diese Beweismittel − so seine Behauptung − vor Abschluss des Verfahrens vernichtet würden. Demgegenüber hätte er an die Ausführungen im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 2020 anknüpfen und darlegen müssen, dass die dort genannten verfassungsrechtlichen Maßstäbe von Verfassungs wegen fortzuentwickeln seien. Denn er stützt sein Vorbringen auf ein von ihm für verfassungsrechtlich geboten gehaltenes Recht auf Vorhaltung beziehungsweise Schaffung von Beweismitteln und damit auf eine Veränderung der Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren. Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsmessungen konstatiert jedoch lediglich ein Recht auf erweiterten Zugang zu vorhandenen Informationen und dies auch nicht unbegrenzt, sondern abhängig von dem jeweiligen Einzelfall (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 55 ff.).“Abs. 42
Im Hinblick auf diese Entscheidung kommt eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem Recht auf ein faires Verfahren nicht in Betracht, weil die begehrten Rohmessdaten auch bei der Behörde nicht vorhanden und auch im Übrigen keine Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Messung im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen worden sind.Abs. 43
III.Abs. 44
Das Verfahren ist gemäß § 28 Abs. 1 ThürVerfGHG kostenfrei.Abs. 45
Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers wird abgelehnt, da weder die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Satz 1 ThürVerfGHG vorliegen, wonach in Verfassungsbeschwerdeverfahren dem erfolgreichen Beschwerdeführer zwingend seine Auslagen zu erstatten sind, noch eine Auslagenerstattung nach § 29 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG zu erfolgen hat.Abs. 46
Nach § 29 Abs. 1 Satz 2 ThürVerfGHG kann eine volle oder teilweise Auslagenerstattung angeordnet werden, wenn besondere Billigkeitsgründe vorliegen. Im Rahmen dieser Billigkeitsregelung ist zugunsten eines Beschwerdeführers zu berücksichtigen, wenn eine an sich erfolglose Verfassungsbeschwerde zu einer für den Beschwerdeführer günstigen Klärung der Rechtslage geführt hat. Ebenso kann für eine Verfassungsbeschwerde nach deren Erledigung eine Auslagenerstattung aus Billigkeitsgründen angeordnet werden, sofern die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs in der Sache offensichtlich Erfolg gehabt hätte und für sie eine Kostenerstattung nach § 29 Abs. 1 Satz 1 ThürVerfGHG anzuordnen gewesen wäre, wenn der Verfassungsgerichtshof vor dem Zeitpunkt der Erledigung entschieden hätte (ThürVerfGH, Beschluss vom 8. Mai 2019 - VerfGH 22/18 -, juris Rn. 9). Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.Abs. 47

(online seit: 12.06.2024)
Zitiervorschlag: Gericht, Datum, Aktenzeichen, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Thüringer Verfassungsgerichtshof, Vorlage von Rohmessdaten - JurPC-Web-Dok. 0071/2024