JurPC Web-Dok. 128/2022 - DOI 10.7328/jurpcb2022379128

Stephan Weth, Stephanie Vogelgesang, Jochen Krüger [*]

Strukturierter Parteivortrag - einmal anders gedacht[1]

JurPC Web-Dok. 128/2022, Abs. 1 - 76


I.

Abs. 1
Um den strukturierten Parteivortrag im Zivilprozessrecht wird heftig gestritten. Für die einen scheint er das Heilmittel für einen guten Zivilprozess der Zukunft, für andere das reinste Teufelswerk zu sein. Eine von den Präsidenten der Oberlandesgerichte eingesetzte Arbeitsgruppe hat sich in dem von ihr vorgelegten Diskussionspapier zur Modernisierung des Zivilprozesses[2] für den strukturierten Parteivortrag ausgesprochen und gefordert, dass der Parteivortrag unter den Bedingungen elektronischer Aktenführung in einem gemeinsamen elektronischen Dokument (Basisdokument) abgebildet wird.Abs. 2
Streyl hat das in einem NJW-Editorial vom Februar 2021 mit den Worten kommentiert: „Man mag es kaum glauben, aber die Präsidenten der Oberlandesgerichte möchten eine Revolution anzetteln.“ Der letzte Satz des Editorials lautet sodann: „Ich hoffe, dass die Strukturierung nicht nur deshalb scheitert, weil Juristen Revolutionen nicht mögen.“Abs. 3
Dass – wie in dem Diskussionspapier - revolutionäre Ansätze beschrieben werden, ist an sich nichts Ungewöhnliches im wissenschaftlichen Diskurs. Das Problem hier scheint allerdings zu sein, dass die Betonung eines revolutionären Ansatzes die damit verbundenen dogmatischen Fragen nur verdunkelt und im Übrigen wesentliche Sachzusammenhänge verkennt.Abs. 4
Dies soll im Folgenden näher begründet werden. Vorab ist bereits auf Folgendes hinzuweisen:Abs. 5

II.

Abs. 6
Es kann keine Rede davon sein, dass das Konzept des strukturierten Parteivortrags erst durch das oben genannte Diskussionspapier entdeckt worden ist. Entsprechende Modelle des strukturierten Parteivortrags wurden bereits Anfang 1990 intensiv diskutiert. Insbesondere ist der geistige Zusammenhang zwischen strukturiertem Parteivortrag und elektronischer Aktenführung eine alte Erkenntnis. Für eine elektronische Prozessführung erscheint eine Strukturierung und Formalisierung des Parteivortrags nicht nur möglich. Ein derartiges Verfahren wird ohne Vorstrukturierung des Verfahrensstoffs nicht auskommen. Darauf haben jüngst Herberger und Köbler zu Recht hingewiesen.[3] 2014 hat der Gedanke des strukturierten Parteivortrags durch die prozessrechtliche Abteilung des 70. Deutschen Juristentages in Hannover wesentliche Impulse erhalten.Abs. 7
Die damalige Fragestellung lautete: Der Richter im Zivilprozess – sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?[4] Dabei hat der Juristentag unter der Überschrift „Reform des Erkenntnisverfahrens“ einen Antrag Nr. 13 mit knapper Mehrheit (41 zu 38 zu 5) angenommen. Danach ist über verbindliche Regelungen sicherzustellen, dass die Parteien ihren Vortrag zum tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen strukturieren. Damit verbunden (Antrag Nr. 15) wurde eine Verpflichtung des Gerichts zu vertiefter Prozessleitung, die bei Wahrung des rechtlichen Gehörs zu einer Abschichtung des Vortrags führt.Abs. 8
2017 hat Vorwerk ein detailliertes Regelwerk für die gesetzliche Ausgestaltung eines strukturierten Verfahrens im Zivilprozess vorgestellt.[5]Abs. 9
Nur so viel zum Beleg, dass es sich bei der Diskussion um den strukturierten Parteivortrag nicht um ein neues Phänomen handelt.Abs. 10

III.

Abs. 11
1. Vor dem Hintergrund, dass Schriftsätze in derzeitiger Form digital kaum verwertbar sind, haben die OLG-Präsidenten – wie bereits erwähnt – gefordert, dass der Parteivortrag in einem gemeinsamen elektronischen Dokument (= Basisdokument) abgebildet wird. Was hat es nun mit diesem Basisdokument auf sich?Abs. 12
Auffällig ist zunächst, dass die Beschreibung des Basisdokuments in zentralen Punkten wenig konkret ist. Zu den – wenigen – klaren Aussagen im Diskussionspapier gehört:Abs. 13
(1) Das Basisdokument ersetzt den gesamten bisher schriftsätzlich erfolgten Sachvortrag der Parteien, sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht.Abs. 14
(2) Ausgangspunkt des Basisdokuments ist der Lebenssachverhalt und nicht eine vom Kläger für einschlägig gehaltene Anspruchsgrundlage.Abs. 15
(3) Eine gemeinsame Arbeit der Parteien erfordert zwingend bestimmte Vorgaben an die Erstellung des Basisdokuments und die Gliederung des anspruchsrelevanten Vortrages.Abs. 16
Aus unserer Sicht ist der entscheidende Mangel hier, dass sich nichts Eindeutiges darüber findet, wer diese Vorgaben macht und wer die Letztverantwortung für das Basisdokument hat. Insoweit heißt es im Diskussionspapier: „Das Gericht ist nur ausnahmsweise befugt, selbst direkte Eingriffe in die Struktur des Basisdokuments vorzunehmen.“[6]Abs. 17
Hier scheint die Vorstellung zu bestehen, grds. seien die Parteien für das gemeinsame Basisdokument zuständig. Was ist aber, wenn die Parteien sich nicht einigen? Was ist, wenn sich die Parteien an die Strukturvorgaben nicht halten und völlig chaotisch vortragen? In welchen Fällen darf das Gericht eingreifen? Welche Wirkung hat dies für die Verbindlichkeit des Basisdokuments? Diese Fragen werden im Diskussionspapier nicht eindeutig beantwortet.Abs. 18
Eines scheint uns aber gewiss. Ohne Sanktionsmöglichkeiten für die Nichteinhaltung der Strukturvorgaben wird die Einführung des Basisdokuments wenig bringen, weil jede Partei – unsanktioniert – vortragen kann, wo es ihr gerade passt!Abs. 19
(4) Das Diskussionspapier enthält dann einige Angaben zum Inhalt des Basisdokuments. So wird darauf hingewiesen, dass der Vortrag zu einem Teilaspekt nur unter der jeweiligen Randnummer erfolgen kann. Jede Partei erhält hierzu ihre eigene Spalte in dem Basisdokument. Der chronologisch eingehende Vortrag der Parteien wird auf diese Weise unmittelbar dem jeweiligen Vortrag des Gegners zugeordnet. Das Basisdokument ist also nach dem Muster einer Relationstabelle aufgebaut.[7]Abs. 20
(5) Es ist nicht erforderlich, dass die Parteien eine rechtliche Würdigung des Sachverhaltes vornehmen.Abs. 21
(6) Der im Basisdokument enthaltene Sachvortrag wird im Laufe des Verfahrens verbindlich und übernimmt die Funktion des Tatbestands im Urteil. Das Basisdokument ist eine abschließende Grundlage für die gerichtliche Entscheidung. Die Verbindlichkeit tritt durch Erklärung der Parteien oder nach Schluss der mündlichen Verhandlung ein.Abs. 22
Nun können die Parteien im zivilprozessualen Verfahren vieles erklären und vereinbaren, was das Gericht bindet. Eine Bindung an einen nur von den Parteien konsentierten Tatbestand des Urteils ist jedoch abzulehnen. Wie soll der Richter ein Urteil fällen und begründen, wenn dieser Tatbestand unsinnig oder widersprüchlich oder offensichtlich unrichtig oder zur Subsumtion ungeeignet ist, etwa weil er unvollständig ist.Abs. 23
Die Verantwortung für den Urteilstatbestand muss der Richter tragen. Ein Indiz dafür ergibt sich auch aus Art. 103 Abs. 1 GG. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Es verpflichtet das Gericht u. a. den wesentlichen Kern des Vorbringens der Partei zu erfassen und soweit er eine zentrale Frage des jeweiligen Verfahrens betrifft, in den Gründen zu bescheiden.[8] Dass das Gericht die Ausführungen zur Kenntnis genommen, in Erwägung gezogen und den wesentlichen Kern des Vorbringens erfasst hat, ergibt sich aus seinem Urteil und zwar aus Tatbestand und Entscheidungsgründen. Beides darf ihm daher nicht (schon gar nicht mit bindender Wirkung) von den Parteien vorgegeben werden.Abs. 24
2. Vor dem soeben geschilderten Hintergrund sollen im Folgenden zwei Aspekte des Diskussionspapiers erörtert werden:Abs. 25
Zunächst geht es um die im Diskussionspapier formulierte Ausgangsthese, dass das Konzept des strukturierten Parteivortrags keine Orientierung an rechtlichen Normen, sondern am Sachverhalt erfordert.Abs. 26
Sodann soll die Rolle der Anwaltschaft im Rahmen des Konzepts des strukturierten Parteivortrags erörtert werden.Abs. 27
a) Laut Diskussionspapier ist Ausgangspunkt des Basisdokuments der Lebenssachverhalt und nicht eine vom Kläger für einschlägig angenommene Anspruchsgrundlage.[9] Letzteres würde zwar gezielten Vortrag zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen ermöglichen, aber letztlich kontraproduktiv sein.Abs. 28
In diesem Zusammenhang wird im Diskussionspapier unter anderem darauf verwiesen, dass die Parteien in einer großen Zahl von Fällen eine vom Gericht für unzutreffend gehaltenen Anspruchsgrundlage für einschlägig halten. Zudem würde eine solche Art der Strukturierung dem Basisdokument oftmals die Funktion des Tatbestandes als eine Art Geschichtserzählung nehmen. Schließlich entspreche allein der Ansatz, den Lebenssachverhalt als Ausgangspunkt zu nehmen, dem Grundsatz „iura novit curia“.Abs. 29
Das kann im Ergebnis nicht überzeugen.Abs. 30
So hängt die Auswahl der Tatsachen, die sinnvoller Weise vorgetragen werden sollten, auch von der begehrten Rechtsfolge ab.[10] Dies setzt bei der Faktenauswahl ein rechtliches Grundwissen voraus, das standardisiert nur im Anwaltsprozess vorausgesetzt werden kann. Allgemein gilt: Mit der Strukturierung wirkt das Gericht auf einen Parteivortrag hin, der strikt an der Rechtslage ausgerichtet ist und sich auf diese konzentriert.[11]Abs. 31
Wir wollen das durchaus einmal zuspitzen: Es ist aus gutem Grund üblich, dass die Anwaltsschriftsätze Rechtsausführungen enthalten; ohne diese wäre – jedenfalls in aller Regel – ein Zivilprozess nicht sinnvoll und an der Prozessökonomie orientiert zu führen. Es würde allen Beteiligten – völlig unnütz – erheblicher Mehraufwand entstehen. Und: was ist eigentlich der Sinn des Anwaltsprozesses, wenn ich die Expertise der Anwaltschaft nicht nutze?Abs. 32
b) Damit rückt erkennbar auch die Thematik „strukturierter Parteivortrag und dessen Auswirkungen auf die anwaltliche Tätigkeit“ in den Blickpunkt.Abs. 33
Soweit ersichtlich, steht die Anwaltschaft dem Konzept des strukturierten Parteivortrages nebst Basisdokument kritisch gegenüber. Römermann hat in einem Beitrag im Anwaltsblatt unter der Überschrift „Vorschlag zum strukturierten Parteivortrag geht an der Realität vorbei“ Stellung genommen und dem Diskussionspapier attestiert, es könne seine einseitige Herkunft aus dem richterlichen Blickwinkel nicht verleugnen. Anwältinnen und Anwälte seien keine Hilfsorgane der Justiz, die maximale Prozessökonomie und minimalen Personalaufwand bei den Gerichten zu verfolgen hätten.[12]Abs. 34
Dies ist wohl richtig. Aber könnte das Konzept der OLG-Präsidenten nicht auch für die Anwaltschaft hilfreich sein?Abs. 35
Das sehen wir im Ergebnis nicht so. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Ausgestaltung des Basisdokuments. Dieses ist in wichtigen Fragen unkonturiert und weist auch inhaltlich zentrale Mängel auf (z. B. Bindung des Richters an den von den Parteien konsentierten Sachverhalt des Urteils). Damit ist es – jedenfalls in dieser Form – kein tragfähiges Konzept für die Zukunft.Abs. 36

IV.

Abs. 37
Nun heißt das Thema unseres Vortrages strukturierter Parteivortrag – einmal anders gedacht. Bisher war aber, das räumen wir sofort ein, von anders gedacht überhaupt noch nicht die Rede. Wenden wir uns also nun diesem Thema zu.Abs. 38
Hintergrund ist die Ausgangsthese, dass das derzeitige Verfahrenskonzept der ZPO, das auf der Papierakte aufgebaut ist, nicht einfach in die digitale Welt übertragen werden sollte. Der Zivilprozess der Zukunft muss von vorneherein anders – nämlich digital – gedacht werden.Abs. 39
1. Wenn wir nun den Zivilprozess anders denken, nämlich aus digitaler Sicht, so lässt sich zunächst eine gestörte Kampfparität feststellen. Der Begriff stammt aus dem Arbeitskampfrecht und meint, dass die Tarifvertragsparteien, Gewerkschaften auf der einen und Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite, gleich wirksame Waffen oder – wenn man so will – gleich wirksame Mittel haben müssen, um sich im Arbeitskampf zu behaupten und einen für sie brauchbaren Tarifvertrag zu erreichen. Der Arbeitnehmerseite steht der Streik zur Verfügung. Hätte die Arbeitgeberseite nicht die Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes, so stünde sie wehrlos da und wäre den Forderungen der Gewerkschaften schutzlos ausgeliefert. Und da dies gegen das Erfordernis der Arbeitskampfparität verstoßen würde, stehen Rechtsprechung und h. M. völlig zu Recht auf dem Standpunkt, dass der Arbeitgeberseite die Aussperrung möglich sein muss.Abs. 40
2. Was hat das nun mit dem digitalen Zivilprozess zu tun?Abs. 41
Sven Rebehn, der Chefredakteur der Deutschen Richterzeitung, hat in einem Artikel mit der Überschrift „Ziviljustiz am Beginn einer tiefen Krise“[13] auf folgenden Beschluss der Herbstkonferenz der Justizressorts 2021 hingewiesen: „Die Prozessführung in Massenverfahren stellt die Gerichte vor große Herausforderungen, weil zum Teil sehr umfangreiche und textbausteinartige Schriftsätze ohne hinreichenden Einzelfallbezug eingereicht werden und Terminvertreter nicht immer sachkundig sind.“Abs. 42
Tobias Freudenberg hat in einer Kolumne in der NJW formuliert[14]: „Die Justiz sieht ein zentrales Problem der Massenverfahren in Schriftsätzen, die aus unzähligen Testbausteinen wie am Fließband produziert werden und viel unnötigen Ballast jenseits des konkreten Falles beinhalten.“Abs. 43
Nun ist es nichts Neues, dass der Vortrag der Parteien extrem umfänglich sein kann (viele hundert oder tausend Seiten), dass er viel unnötigen Ballast enthält, dass kein hinreichender Einzelfallbezug vorliegt, dass viele unterschiedliche Themenfelder in der Hoffnung behandelt werden, eines sei schon das richtige, dass völlig ungeordnet vorgetragen wird, dass Textbausteine verwendet werden. Das gab es auch schon vor der Digitalisierung, und das gibt es natürlich auch jenseits von Massenverfahren.Abs. 44
Neu ist aber, dass aufgrund der digitalen Möglichkeiten mit erheblich geringerem Aufwand große Datenmengen erzeugt werden können, indem schon vorhandene Daten z. B. aus anderen Verfahren, aus elektronischen Datenbanken usw. auf Knopfdruck (copy and paste) zusammengestellt und dem Gericht übermittelt werden können. Druckkosten und der Aufwand, zusätzliche Exemplare der Klageschrift mit Anlagen herzustellen, entfallen ebenfalls.Abs. 45
Der Richter wird auf diese Weise mit Material zugeschüttet und muss unter Geltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und unter Geltung des § 139 ZPO (materielle Prozessleitung) sich durch viele Seiten wühlen, sie gründlich lesen und herausfiltern, was von dem umfänglichen Parteivortrag wichtig ist und was nicht. Das ist eine ausgesprochen gefahrgeneigte Tätigkeit, weil er – allein wegen der zu bewältigenden Datenmenge – leicht etwas Entscheidungserhebliches übersehen kann. Nach derzeitiger Rechtslage ist der Richter dem wehrlos ausgesetzt. Insoweit ist die Kampfparität gestört.Abs. 46
Und da liegt es doch nahe, zu überlegen, ob die Kampfparität nicht dadurch hergestellt werden kann, dass der Vortrag der Parteien strukturiert wird und dass ein Basisdokument hergestellt wird, das verlässlich den gesamten – erheblichen – Parteivortrag wiedergibt.Abs. 47
3. Natürlich kann das Gericht schon jetzt auf Strukturierung des Vorbringens hinwirken. § 139 Abs. 1 S. 3 ZPO lautet: „Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozess-leitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.“Abs. 48
Das Gericht könnte etwa von beiden Parteien verlangenAbs. 49
- alles zum Vertragsschluss in Abteilung 1Abs. 50
- alles zur Vertragsverletzung in Abteilung 2Abs. 51
- und alles zum Schaden in Abteilung 3Abs. 52
vorzutragen.Abs. 53
a) Das würde die richterliche Arbeit deutlich vereinfachen, wenn der Richter sich darauf verlassen könnte, dass sich alles, was zum Vertragsschluss gesagt wurde, in Abteilung 1 findet. Er könnte sich dann nämlich zur Entscheidung der Frage, ob ein Vertrag geschlossen wurde, auf die wenigen Seiten in Abteilung 1 beschränken und könnte alles weitere Vorbringen zunächst ausblenden.Abs. 54
Darauf kann sich aber der Richter nicht verlassen, weil keine Partei gehindert ist, sich nicht an die Strukturen zu halten und an der völlig falschen Stelle vorzutragen. Das darf für die Parteien – nach derzeitigem Rechtsstand – keine nachteiligen Folgen haben, weil der Richter aufgrund von Art. 103 Abs. 1 GG auch den Vortrag an falscher Stelle zur Kenntnis nehmen und in Erwägung ziehen muss.Abs. 55
Diese sich aus dem Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör ergebende Folge wird u. E. in der Diskussion viel zu wenig beachtet.Abs. 56
b) Zu einer Arbeitserleichterung für den Richter und zur Steigerung der Prozessökonomie kann strukturierter Parteivortrag und die Nutzung des Basisdokuments nur dann führen, wenn das Vorbringen, das die Strukturvorgaben nicht beachtet und damit an der falschen Stelle steht, präkludiert werden kann. Nur dann, wenn der Gesetzgeber die Präklusionsmöglichkeit eröffnet, ist eine Nichtbeachtung des Vorbringens ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG möglich.Abs. 57
Konkret hieße das:Abs. 58
(1) Die Parteien müssen nach den Strukturvorgaben des Gerichts an der richtigen Stelle vortragen. Tun sie das nicht, kann ihr Vorbringen präkludiert werden.Abs. 59
(2) Aus dem unter der Verantwortung und nach den Strukturvorgaben des Richters erstellten Basisdokument wird durch ihn oder automatisch unter seiner Verantwortung der Tatbestand des Urteils erstellt.Abs. 60
(3) Diesen erhalten die Parteien zur abschließenden Stellungnahme und haben hier letztmals die Gelegenheit, Ergänzungen anzubringen. Zulässig sind dann aber nur solche Ergänzungen, die den Vortrag an der richtigen Stelle betreffen und die der Richter übersehen hat oder Ergänzungen neuer oder an der falschen Stelle vorgetragenen Tatsachen, die den Prozess nicht verzögern.Abs. 61
Akzeptieren die Parteien den Tatbestand, gilt er als richtig und kann im weiteren Verfahren nicht mehr in Frage gestellt werden (also insbesondere nicht in der Rechtsmittelinstanz).Abs. 62
c) Wir sind uns bewusst, dass Präklusion von Parteivorbringen, wie die Geschichte des § 296 ZPO (Zurückweisung verspäteten Vorbringens) zeigt, eine höchst heikle Angelegenheit ist. Die Rechtsprechung von BGH und BVerfG hat in Anwendung des Art. 103 Abs. 1 GG so hohe Anforderungen an die Zurückweisung von Parteivorbringen gem. § 296 ZPO gestellt, dass die Zivilgerichte von dieser Möglichkeit kaum noch Gebrauch machen.[15] Das hängt auch damit zusammen, dass der Richter, der zurückweist, die Aufhebung seines Urteils riskiert; die Nichtzurückweisung verspäteten Vorbringens hingegen ist selbstheilend und kann nicht zur Urteilsaufhebung führen.[16]Abs. 63
Unter Geltung des Art. 103 Abs. 1 GG erscheint die Anordnung von Präklusion durch den Gesetzgeber der einzige Weg zu sein, die dringend erforderliche Strukturierung des Parteivorbringens auf den Weg zu bringen, um einen effektiven Rechtsschutz i. S. eines Rechtsschutzes in angemessener Zeit zu gewährleisten. Gesetzgeber und Rechtsprechung sind hier gefordert.Abs. 64
d) Klar ist, dass das alles nur im Anwaltsprozess zulässig ist, was zu der Frage führt, ob nicht intensiv über eine Ausdehnung des Anwaltsprozesses auch auf amtsgerichtliche Verfahren nachgedacht werden müsste.Abs. 65

V.

Abs. 66
Damit kommen wir zum Schluss und zum Fazit unserer Überlegungen in 6 Thesen:Abs. 67
1. Es lohnt sich, intensiv über strukturierten Parteivortrag und die Nutzung eines sog. Basisdokuments nachzudenken.Abs. 68
2. Die (Kampf)parität ist dadurch gestört, dass aufgrund der digitalen Möglichkeiten das Gericht von den Parteien mit Material zugeschüttet werden kann, ohne sich dagegen wehren und die Parteien zu einer sinnvollen Mitarbeit zwingen zu können.Abs. 69
3. Durch den strukturierten Parteivortrag und Nutzung des Basisdokuments kann die Parität wieder hergestellt und eine Arbeitserleichterung für den Richter und eine Steigerung der Prozessökonomie erreicht werden. Dies gilt aber nur, wenn die Parteien zur Mitarbeit verpflichtet werden können. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber Präklusionsvorschriften schafft.Abs. 70
4. Nur wenn der Gesetzgeber die Präklusionsmöglichkeit eröffnet, ist eine Nichtbeachtung des Vorbringens ohne Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG möglich.Abs. 71
5. Konkret:Abs. 72
(1) Die Parteien müssen nach den Strukturvorgaben des Gerichts an der richtigen Stelle vortragen. Tun sie das nicht, kann ihr Vorbringen präkludiert werden.Abs. 73
(2) Aus dem unter der Verantwortung und nach den Strukturvorgaben des Gerichts erstellten Basisdokuments wird der Tatbestand des Urteils erstellt.Abs. 74
(3) Diesen erhalten die Parteien zur abschließenden Stellungnahme und haben hier letztmals die Gelegenheit, Ergänzungen anzubringen.Abs. 75
6. Klar ist, dass das alles nur im Anwaltsprozess zulässig ist, was zu der Frage führt, ob nicht intensiv über eine Ausdehnung des Anwaltsprozesses auch auf amtsgerichtliche Verfahren jenseits der Grenze des § 495a ZPO nachgedacht werden müsste.Abs. 76

Fußnoten:

[*] Prof. Dr. Stephan Weth, Dr. Stephanie Vogelgesang und Dr. Jochen Krüger arbeiten an der Universität des Saarlandes u.a. zu Fragen der Digitalisierung im Recht.
[1] Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um eine leicht gekürzte und mit wenigen Fußnoten versehene Fassung des Vortrages, der am 19. Juli 2022 im Rahmen der 4. Großen Zukunftswerkstatt im Forschungsprojekt „Amtsgericht 4.1“ in der Europäischen Akademie Otzenhausen von Prof. Dr. Weth gehalten wurde. Die Vortragsfassung wurde beibehalten. Eine erweiterte und überarbeitete Fassung des Vortrages erscheint demnächst in der jM.
[2] Vgl. Diskussionspapier der Arbeitsgruppe "Modernisierung des Zivilprozesses", Zusammenfassung S. V und VI, abrufbar unter https://www.justiz.bayern.de/media/images/behoerden-und-gerichte/oberlandesgerichte/nuernberg/diskussionspapier_ag_modernisierung.pdf (Stand 07.09.2022).
[3] Herberger/Köbler, AnwBl. 2021, 674.
[4] Dazu näher Vogelgesang, Diss. iur., Der elektronische Rechtsverkehr, die elektronische Akte und das Zivilverfahrensrecht – Probleme und Chancen, 2020, 249 f.
[5] Vorwerk, NJW 2017, 2326.
[6] Vgl. Diskussionspapier S. 34.
[7] Köbler in: Ory/Weth, juris-PK-ERV, Bd. 1, 2. Auflage 2022, Kapitel 7, Rn. 23.
[8] Vgl. nur BGH, VersR 2021, 733, 734, Rn. 6.
[9] Vgl. Diskussions-Papier, Seite 34.
[10] Dazu näher Zwickel, Die digitale Strukturierung und inhaltliche Erschließung zivilprozessualer Schriftsätze im Spannungsfeld zwischen Parteiherrschaft und Richtermacht, in: Die Digitalisierung gerichtlicher Verfahren und das Prozessrecht, herausgegeben von Buschmann und anderen, 2018, 182.
[11] Gaier, NJW 2020, 177, 182.
[12] Römermann, AnwBl 2021, 285 f.
[13] Rebehn, DRiZ 2021, 438, 439.
[14] Freudenberg, NJW – aktuell 25/2022, 7.
[15] Vgl. dazu näher die Nachweise bei Prütting in: MüKoZPO, 6. Auflage 2020, § 296 Rn. 1 ff.
[16] Vgl. dazu bereits Weth: Wieczorek/Schütze, ZPO, B 6.4, 4. Aufl. 2013, § 296 Rn. 3.

[online seit: 13.09.2022]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok, Abs.
Zitiervorschlag: Vogelgesang, , Stephan Weth, Stephanie, Strukturierter Parteivortrag - einmal anders gedacht - JurPC-Web-Dok. 0128/2022