Jörg Berkemann *Freie Rechtsprechung für freie Bürger ?!JurPC Web-Dok. 354/2002, Abs. 1 - 87 |
Der nachfolgende Beitrag ist das Manuskript des Eröffnungsvortrages, den Professor Dr. Dr. Jörg Berkemann auf dem diesjährigen EDV-Gerichtstag in Saarbrücken hielt. Die Vortragsform ist beibehalten worden. |
Meine sehr geehrten Damen und Herren - liebe Kolleginnen und Kollegen - liebe Gäste - Bürgerinnen und Bürger! Freie Bürger auf der Suche nach dem freien Recht! | JurPC Web-Dok. 354/2002, Abs. 1 |
... es ist demnach schlechterdings kein zureichender Grund zur Verheimlichung irgendeines Akts der Staatsverwaltung gedenkbar." (Wilhelm Joseph Behr, System der angewandten allgemeinen Staatslehre oder der Staatskunst I, 1810 S. 301, 308). |
I. |
Ein schwieriges, komplexes Thema: Müssen gerichtliche Entscheidungen kostenlos veröffentlicht werden? Das ist eine objektiv-rechtliche Fragestellung. Nur als ein Seitenthema ergänzend: Hat der "mündige Bürger" unserer Gesellschaft einen Anspruch auf kostenlosen Zugriff auf gerichtliche Entscheidungen? Das sollen die ins Zentrum zielenden vereinfachenden Fragen sein. Ich werde die Untersuchung mit zwei Thesen verbinden: [1] Der Nachweis, daß zu viel an Entscheidungen veröffentlicht werden. [2] Der Nachweis, daß der Gesetzgeber uns, den EDV-Gerichtstag, bei unserem Tun beobachtet. Betrachten Sie die Ergebnisse dieser beiden Nebenthesen gleichsam als "Abfallprodukte" des gemeinsamen Räsonnierens. | Abs. 2 |
Ich nähere mich den Antworten durch sechs Teilfragen: [1] Müssen gerichtliche Entscheidungen überhaupt sein? [2] Müssen gerichtliche Entscheidungen begründet werden? [3] Für wen müssen gerichtliche Entscheidungen begründet werden? Oder: Wer ist Adressat der Begründung? [4] Ist die gegebene Begründung einer Entscheidung ein öffentliches Gut? [5] Müssen öffentliche Güter zu jedermanns Nutzen im Sinne eines Gemeingebrauchs offenstehen? Oder sollten sie es jedenfalls tun? [6] Muß ein Gemeingebrauch für den Nutzer stets kostenlos sein? Oder sollte er es jedenfalls sein? | Abs. 3 |
1. Ein erstes Bild: Lassen Sie mich mit einer jüdischen talmudischen Geschichte beginnen: Zwei orthodox-gläubige Schüler in einer jüdischen Jeschiwa diskutieren miteinander unsere Frage, "klären", wie es im jüdischen Jargon heißt. | Abs. 4 |
| Abs. 5 |
Soweit die Auslegungskunst unserer beiden jungen Jeschiwa-Schüler. Bedenken Sie: Sie stehen am Anfang ihres Studiums. Und schon können sie bemerkenswert ergebnisorientiert argumentieren. | Abs. 6 |
König Salomon agierte um das Jahr 1000 v. Chr. Die Geschichte ist im 1. Könige 3, 16 ff. nachzulesen. Das Bild der Bibel ist eine Legende, wie man sie auch anderenorts kennt. Niedergeschrieben ist die Geschichte natürlich wesentlich später (vgl. E. Zenger, Einleitung in das Alte Testament, 4. Aufl., 2001, S. 216 ff.). Die gelobte Weisheit ist für uns Heutige übrigens recht zweifelhaft, sowohl nach dem kategorischen Imperativ des Immanuel Kant als auch nach den heutigen Maßstäben des fairen Verfahrens. | Abs. 7 |
2. Damit zurück zu unserer Ausgangsfrage: Haben wir, hat der "mündige Bürger" unserer Gesellschaft einen Anspruch auf kostenlosen Zugriff auf gerichtliche Entscheidungen? Die Auslegungskunst unserer beiden Jeschiwa-Schüler erkennt ganz richtig, daß die Antwort die Suche nach der Rechtsnorm bedingt. | Abs. 8 |
2.1 In unserer heutigen Normenwelt mag man darauf antworten: Auch unser Recht ist "voller Hinweise". Ja, das stimmt, mag man seufzend zugestehen. Ich muß an dieser Stelle unbedingt eine Sentenz des Bundesverfassungsgerichts einflechten, die uns Hoffnung und Ermutigung in schwierigen Rechtsfragen geben kann: | Abs. 9 |
Das Gericht hatte sich einmal mit dem Begriff der "Offensichtlichkeit" für sein eigenes Verfahren zu befassen. Danach gilt folgendes: "Die Beurteilung, ein Antrag ... sei offensichtlich unbegründet, setzt nicht voraus, daß seine Unbegründetheit auf der Hand liegt; sie kann auch das Ergebnis vorgängiger gründlicher Prüfung sein" (BVerfGE 82, 316 [319 f.] = JR 1991, 191 im Anschluß an BVerfGE 60, 175 = JR 1982, 492; BVerfGE 61, 82 = JR 1983, 188). Die Herstellung der Offensichtlichkeit gilt dem Gericht also auch als ein Ergebnis vertieften Nachdenkens. Das ist eine bemerkenswerte "Sichtweise". Der Begriff der "Offensichtlichkeit" ist dem Sprachfeld der mittelalterlichen Mystik zuzuordnen. Darf man annehmen, daß er gerade deshalb rasch Eingang in die Alltagssprache der Juristen gefunden hat? Ich erwähne kurz andere Wendungen: einsichtig, im Hinblick auf, ersichtlich, einleuchten - auch in der Form: das leuchtet mir ein, oder auch negativ: das leuchtet mir nicht ein -, weitere Wendungen sind: hinsichtlich, erkennbar, im Lichte von, Durchblick, in den Blick nehmen, das erhellt, etwas beleuchten, aber auch blitzartig, auch in der Wendung vom "heiteren Blitz" u.s.f, - Man kann das übrigens noch steigern: Etwa mit der Wendung "offensichtlich aussichtslos" (vgl. z.B. BVerfG [Kammer], NVwZ 1999, 867; BVerfG [Kammer], NVwZ 1998, 169). | Abs. 10 |
2.2 Die hier auftretenden Fragen werden in der Dogmatik des juristischen Optozentrismus behandelt. Und ich bedauere aufrichtig, daß ich diesen methodischen Ansatz zur Behandlung schwieriger juristischer Fragen hier nicht vertiefen kann. Ich möchte aber doch noch einen statistischen Hinweis geben. | Abs. 11 |
Quelle: juris GmbH, Stand: 25.9.2002 | Abs. 12 |
Zur beispielhaften Erläuterung: In der Juris-CD "Allgemeines Verwaltungsrecht" (16. Aufl. 2002) qualifizieren sich von 590 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 203 mit dem Stichwort "offensichtlich", das sind 34 %; bei 5.810 Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts enthalten nur 854 das Wort "offensichtlich", das sind knapp 15%. In der Juris-CD "Baurecht" enthalten 57 von 149 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts das Wort "offensichtlich", also 38 %; vergleicht man dies mit den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf der CD "Baurecht" ergibt sich, daß in 426 von insgesamt 2.925 Entscheidungen das Partikel "offensichtlich" benutzt wurde, das sind lediglich 15%. | Abs. 13 |
Vielleicht geben die angeführten Zahlen Anlaß darüber nachzudenken, ob es wirklich gut ist, Entscheidungsgründe zu veröffentlichen. Lassen doch die Zahlen den Schluß zu, daß etwa 1/3 der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wegen Offensichtlichkeit der Rechtslage überflüssig ist. Man könnte dazu die These vertreten, was "offensichtlich" ist, muß nicht dargetan werden. Gegenstand der "Offensichtlichkeit" ist bereits Bestandteil des allgemeinen Wissens. Folgt man dem, reduziert sich die Menge und damit auch eine vermutete, jedenfalls die hier erörterte Kostenlast. Das könnte die eingangs gestellte Frage also zumindest entschärfen. Was überflüssig ist, hat zudem keinen "Marktwert", muß mithin aus diesem Grunde auch kostenlos sein. Diesem gewiß überraschenden Ansatz steht allerdings entgegen, daß die Offensichtlichkeit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eben auch erst durch reifliches Überlegen hergestellt werden kann. | Abs. 14 |
3. Nun aber etwas ernsthafter und damit zu Goethe. Wir sind unverändert bei der Frage, ob der "mündige Bürger" unserer Gesellschaft einen Anspruch auf kostenlosen Zugriff auf gerichtliche Entscheidungen hat. Also Goethe! Wir kennen ihn. Er formuliert im methodischen Ansatz, um den es ja hier in wissenschaftlicher Einsicht zunächst geht, wie folgt: "Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr`s nicht aus, so legt was unter (Goethe, Zahme Zenion 2). Und Goethe war von der Ausbildung her Jurist. Ein guter Zeuge also, sollte man annehmen. | Abs. 15 |
Indes was ist das Gemeinsame von Goethe und den Jeschiwa-Jüngern? Beide denken im status quo einer bestehenden Ordnung, welche eine Rechtsfrage lösen kann. Und damit ein erstes Resümee: Die Frage, ob wir als "mündige Bürger" unserer Gesellschaft einen Anspruch auf kostenlosen Zugriff auf gerichtliche Entscheidungen haben, läßt sich in "de lege lata" und "de lege ferenda" unterscheiden, indes damit leider noch nicht beantworten. Gleichwohl formuliert Goethe: Seltsam ist der Propheten Lied, doppelt seltsam, was geschieht" (Vorspruch zu den "Weissagungen des Bakis, [1814], in: Poetische Werke, Vollständige Ausgabe, Bd.1, Stuttgart, o.J., S.241-248). | Abs. 16 |
4. Einen wichtigen Zwischenschritt gilt es nun zu tun, um das grundsätzliche Anliegen von H.-G. Gadamer (Wahrheit und Methode, 1961) zu verfolgen. Zwar kann ich insoweit erneut auf J. W. von Goethe verweisen, als er in einer Miszelle fragte "Was stund auf den Tafeln des Bundes?" und damit den radikalen Ansatz überlegte, ob überhaupt ein Text vorhanden sei, den man befragen könne (vgl. Goethe, Biblische Fragen, Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben, Lindau a. Bodensee 1773, in: Schriften zu Literatur und Theater, Gesamtausgabe, Bd.15, Stuttgart, o.J., S.46-55). | Abs. 17 |
Indes seien wir im methodischen Ansatz vorsichtig. Bedenken wir: Goethe war ein Spieler, ein Spieler mit Gedanken. Sein wirkliches Ziel war es, möglichst viele Zitate für den Büchmann zu liefern. Dieser Nachweis ist längst geführt. Daher können wir uns auf die Methodenlehre von Goethe nicht so sehr verlassen, geht es doch um die mens sacrae scripturae, indem wir fragen, wer uns wirklich zur Lösung und wodurch jene Hinweise gibt, die wir zur Beantwortung der gestellten Frage benötigen. Immerhin enthielt § 48 Einl. ALR noch ein Interpretationsverbot. Vielleicht hat Goethe nicht bemerkt, daß dieses Verbot bereits 1798 wieder aufgehoben wurde. | Abs. 18 |
Deshalb rufe ich zunächst drei andere Meister der Interpretationskunst auf. Es sind dies zunächst Friedrich Carl von Savigny (System des heutigen Römischen Rechts, Bd.1, 1840, besser indes die Nachschrift der Vorlesung 1802/03 von Jacob Grimm, 1951 von Wesenberg herausgegeben) und auch Karl Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1960). Savigny kannte noch Puchta, auch den jungen Windscheid, aber nicht den späteren Jhering. Das kostete ihn die Krone, Begründer eines interpretatorischen Basismodells zu werden. Dieses verdankten wir erst Rudolf von Jhering. Er postulierte das, was wir heute die teleologische Auslegung nennen. Auf die richtige Plazierung des "olo" im Teleologischen kommt es allerdings an, gleitet man anderenfalls doch allzu rasch ins Theologische! Karl Larenz war davon nicht ganz frei. Ich kann dies hier nicht vertiefen, versichere aber, daß Karl Larenz sich zwar vielfach mit Urteilen vor allem des Bundesgerichtshofes beschäftigt, aber nicht angibt, ob sie ihm zu diesem Zwecke kostenlos zur Verfügung gestellt wurden (vgl. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, passim). | Abs. 19 |
Daher kürzer: Rudolf von Jhering, Der Zweck im Recht. Rabbinische Auslegungskunst, nachweisbar etwa bei R Hillel (vgl. C. K. Barret, Die Umwelt des Neuen Testaments, dt. hrsg. von v. Colpe, 1959, Nr.133), steht dem nicht nach. Die Auslegungslehre hat hier übrigens in späteren Jahren zu schönen Wortspielen geführt: C.-W. Canaris schreibt über "Die Feststellung von Lücken im Gesetz". Mir fällt dabei immer nur der Satz des Bergmanns, auch hier im Saarland, ein: "Vor der Hacke ist es duster", ein sog. negativer Optozentrismus. Die Juristen haben ferner die Figur des "beredten Schweigens" entdeckt und entwickelt. Welche eine Dialektik liegt in diesem Kompositum! Liegen da unsere Jeshiwa-Jünger wirklich so falsch, wenn sie die Tora und die übrigen heiligen Bücher befragen, ob der Supreme Court des Staates Israel seine Urteile kostenlos ins Internet stellen darf. Denn eins ist doch gewiß: Auch das Grundgesetz ist voller Hinweise. Nahezu 105 Bände der sog. Amtlichen Sammlung des Bundesverfassungsgerichts zeugen davon. Ich komme darauf noch zurück. | Abs. 20 |
5. Zuvor noch zwei weitere Bilder: Es ist das Jahr 399 v. Chr. Es ist ein Schicksalsjahr für die klassische Philosophie. Wir befinden uns in Athen. Zu verhandeln ist über die Strafklage gegen Sokrates. Der Text des Anklagesatzes ist bei Xenophon wiedergegeben: "Sokrates handelt erstens gesetzwidrig, da er nicht an die Götter glaubt, die der Staat anerkennt, sondern neue Gottheiten einführt; er handelt zweitens gesetzwidrig, da er die Jünglinge verdirbt." (Memorabilia I, 1) | Abs. 21 |
5.1 Kein einzelner entscheidet hier wie 600 Jahre zuvor ein König Salomon, sondern 501 sind es, die Männer von Athen. Die Anklage wird durch drei Athener vertreten, einen Dichter, einen reichen Gerbermeister und einen Rhetor. Sokrates verteidigt sich in einer Rede. Daraufhin entscheiden die 501 Richter über schuldig oder nicht schuldig. Sie sprechen Sokrates schuldig. 280 Stimmen sind es. Dreißig mehr zu seinen Gunsten, und er wäre frei. | Abs. 22 |
Eine Begründung gibt es nicht, die Abstimmung ist im Hergang und im Ergebnis öffentlich. Das Verfahren selbst konstituiert die Richtigkeit. Die Ansichten von 280 Entscheidern lassen sich nicht begründen. Das Urteil ist kostenlos, seine Bekanntgabe ebenfalls. | Abs. 23 |
5.2 Und noch ein drittes Bild: Es ist die Verurteilung von Jesus. Unverändert umstritten, wer ihn zum Tode verurteilt hat: Der Rat der Hohenpriester oder die römische Besatzungsmacht, vertreten durch Pontius Pilatus. Oder ein gemeinsames Agieren? - Auch bleibt kontrovers, welches Recht, welches der Maßstab der Verurteilung war. | Abs. 24 |
6. Drei wichtige Urteile sind es, die man in unserer Rechtsentwicklung pars pro toto betrachten kann. Die Urteile sind Momentaufnahmen. Sie haben unsere abendländischen Vorstellungen von der richterlichen oder quasi-richterlichen Beendigung eines Konfliktes - ausgelöst durch wen auch immer - durch Machtspruch nachhaltig mitgeprägt. Jeweils geht es um Leben oder Tod. Höchste Anspannung ist geboten. Alle drei Urteile werden in völliger Öffentlichkeit gesprochen. Dazu verhilft ihnen die hergestellte Einheit von Zeit, Ort und Öffentlichkeit und natürlich die innere Dramatik des Geschehens. Daher gehen sie in unsere Überlieferungsgeschichte ein. | Abs. 25 |
Jeweils agiert hier der richterliche Entscheider, aber er begründet nicht wirklich. Das heißt genauer: Es gibt für ihn keine eigene und mitteilungsbedürftige Rechtfertigungsebene. Erst die Öffentlichkeit, die Gesellschaft selbst ist es, welche in ihrem Erinnerungsvermögen das Ereignis als gegeben tradiert. Das setzt Strukturen der Überlieferung, der Kommunikation voraus. In ihnen kann das Handlungsscenario jederzeit nacherzählt und damit nacherlebt werden. Die Urteile selbst leisten nicht den geringsten Beitrag dafür, daß sie in die öffentliche Überlieferungsgeschichte aufgenommen werden. Allein die vorangehende tatsächliche Dramatik und die durch sie ausgelöste Wirkung macht sie zum Gegenstand der gesellschaftlichen Erinnerung und damit offen für eine mögliche Reflektion. Auf diese hat der Entscheider, weil er nicht begründet, keinen Einfluß. | Abs. 26 |
Die Gesellschaft selbst ist es also, welche erstmalig Einordnung und Beurteilung des richterlichen Entscheids vornimmt. Sie tradiert, und sie tut dies kostenlos. "Und sie fürchteten sich vor dem Könige, denn sie sahen, daß die Weisheit Gottes in ihm war, Gericht zu halten." | Abs. 27 |
Und weil dies so ist, gibt es keine Transmission über eine Referenzebene des Entscheiders und der beobachtenden, aufnehmenden Gesellschaft. Die Frage, wie sich der Entscheider durch was und vor wem für sein Handeln zu rechtfertigen vermag, kann nicht entscheidungsfähig gestellt werden. Eine mitteilungsfähige Rechtfertigungsebene besteht grundsätzlich nicht. Und damit erledigt sich in einer derartigen rechtlichen Kulturlandschaft auch die Frage des "kostenlosen" Zugangs zu einer derartigen Referenzebene. Ein wichtiges Zwischenergebnis ist so gewonnen: Die gestellte Frage ist nicht absolut zu beantworten, sondern nur relational zu einem Gesellschaftssystem, in das ein Rechtssystem und dessen "Rechtsstab" funktional als Subsystem integriert ist. | Abs. 28 |
Halten wir jetzt kritisch inne, so zeigt sich: Höchste Anstrengungen methodisch geleiteter Interpretationskunst gehen ins Leere, wenn es keinen Gegenstand gibt, der im Dialog mit einem gedachten Adressaten als Objekt der Auslegung Anerkennung finden kann. Für wen nur das Faktum, indes die Rechtfertigung des Gerichtsentscheides nichts bedeutet, der benötigt keine Auslegungskunst und fragt nicht nach exegetischen Hinweisen. | Abs. 29 |
II. |
1. So gilt: Wenn der richterliche Entscheider in der "Weisheit Gottes" entscheidet, hört jedes Vernünfteln auf, wie Immanuel Kant es wohl umschreiben würde. In diesem Sinne ist die "Weisheit Gottes" in ihrer Unergründlichkeit nicht repetierbar. Und in dieser Sicht der Dinge stimmen das Urteil des Salomon und das Sokrates-Urteil überein. | Abs. 30 |
2. Daher ein Perspektivenwechsel, in dem nach dem gegenwärtigen Gesellschaftssystem und dem ihm zugeordneten Rechtssystem gefragt wird. Zum beginnenden 19. Jahrhundert erlebt unsere Gesellschaft das, was man einen "Säkularisierungsschub" nennen könnte. | Abs. 31 |
2.1 Noch wird ein Urteil im Namen des Königs verkündet. Dieser ist "von Gottes Gnaden" tätig. Friedrich II., "der Große" genannt, droht den Richtern des Berliner Kammergerichts in Sachen des Müllers Arnold disziplinarische Maßnahmen an. Eine Urteilsbegründung hat in dieser Phase der Rechtsentwicklung noch den Charakter eines rechtfertigenden Aktenvermerks, d.h. nur zum internen Gebrauch bestimmt. Die Delegation der Macht, welche der Richter im Namen des Königs ausübt, ist durch interne, zur Not königliche Kontrolle rückgebunden, auch zu disziplinarischen Zwecken. | Abs. 32 |
2.2 Die rechtliche und die gerichtliche Rechtskultur ändert sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in wenigen Jahrzehnten. Ich nenne dazu fünf Faktoren, verkürzt in Stichworten: [1] Aufklärung; und die generelle Frage nach der Legitimation staatlicher Herrschaft; [2] Beginnende Industrialisierung und auftretendes Bürgertum, gleichzeitiger Niedergang der Vormacht adliger Funktionseliten; [3] Sozio-Demographische Strukturen einer sich entwickelnden Massengesellschaft; damit Bedürfnis nach bürokratischen Steuerungspotentialen, auch in der Herrschaftsanweisung des gesetzten Rechts, des Gesetzes; [4] Richterliche Unabhängigkeit als gesellschaftliches Bedürfnis nach Neutralität in pluraler, interessenbezogener Gesellschaft, übersetzt auch in die Chiffre der formalen und materialen Rechtsstaatlichkeit; [5] Verwissenschaftlichung wesentlicher gesellschaftlicher Leistungsebenen, auch in Bereichen der Rechts- und Staatswissenschaft, teilweise noch romantisch im "römischen Recht" verklärt. | Abs. 33 |
Nun ein wenig ins Detail. Ende des 18. Jahrhunderts entsteht mit der "Aufklärung" ein nahezu epochales Losungswort. Die bürgerliche Gesellschaft wird zum politischen Hauptträger der daraus abgeleiteten Kritik (vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Freiburg u.a. 1959). Ein gesellschaftlicher und politischer Machtwechsel bahnt sich an. Die Rechtskultur erhält eine unerwartete Förderung durch die kritische, sich universell verstehende Philosophie. Das gilt zunächst nur für die Veröffentlichung von Rechtstexten (vgl. H. Thieme, Publizität der Gesetzgebung im absolutistischen Staat, in: ders., Ideengeschichte und Rechtsgeschichte. Gesammelte Schriften, II. Band, Köln u.a., 1986 S. 774 ff.; U. Karpen, Verfassungsgeschichtliche Entwicklung des Gesetzesbegriffs in Deutschland, in: Gedächtnisschrift W. Martens, Berlin u.a., 1987 S. 137 ff.). Es geht um den Abbau von geheimen, ad hoc geschaffenen Anweisungen. In der rechtsphilosophischen Diskussion gehen Vernunftrecht, Öffentlichkeit als politisch-soziale Handlungseinheit und Information eine enge Verbindung ein. Die Philosophie der kritischen Aufklärung wird zum Motor der weiteren Entwicklung. Immanuel Kant formuliert es als ihr inzwischen anerkannter Fürsprecher eindringlich (I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793]). Der Vernunftgebrauch als die allein maßgebende kritische Instanz muß jederzeit ein "öffentlicher" sein können (so bereits ders., Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? [Dezember 1783]). Kant verdeckt dort noch die Argumentation. Der Text beginnt mit den Worten: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit." | Abs. 34 |
An den Unversitäten beginnt ein extensives Rechtsstudium, das sich zunehmend vom "ungeschriebenen" Naturrecht entfernt, und zur genauen Textanalyse übergeht. Zugleich erkennt der Staat - wie erwähnt - die bürokratisch-steuernde Kraft absichtsvoll gesetzter Rechtstexte. Mit der Forderung nach informierter Öffentlichkeit hatte bereits Kant eine weitere Forderung verbunden, um unberechtigtes Mißtrauen gegen gerechte Rechtsansprüche zu verhindern: "Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen. Denn wenn sie nur durch die Publizität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publikums gemäß sein." | Abs. 35 |
Den neuen Begriff der Öffentlichkeit nimmt der politische Liberalismus begierig auf, verbindet ihn mit dem Pathos der offenen Redlichkeit. Das Menschenbild, das derartigen Vorstellungen und Forderungen zugrunde liegt, ist ein ganz anderes als das des 18. Jahrhunderts. Hier wird der Wahrheitsanspruch einer aufklärerischen Sozialphilosophie verfolgt, die in Fragen des Gemeinwohls kommunitäre Teilhabe fordert. Die ungehinderte Kenntnis des Rechts ist aus der Sicht des sich emanzipierenden Bürgers also zugleich ein erster Schritt zur individuellen Teilhabe an öffentlichen Angelegenheiten. | Abs. 36 |
Die ganz entscheidende Wende im 19. Jahrhundert ist indes eine Diskussion um die Legitimität staatlicher Herrschaft. Greift der Staat in Bereiche der Gesellschaft ein, bedarf er öffentlicher Legitimation. Der Verweis auf ein Gottesgnadentum genügt dazu nicht. Der erforderliche Nachweis der Legitimität wird zu einer verfassungspolitischen Vorstellung, die im Laufe des Jahrhunderts zum rechtsstaatlichen Gemeingut wird. Die sich zunehmend als unabhängig etablierende richterliche Gewalt wird davon nicht ausgenommen. | Abs. 37 |
2.3 Die inneren revolutionären Fortschritte in dieser Phase sind erstaunlich. Bereits zu Beginn der Restauration (1815 ff.) sind wesentliche justizpolitische Forderungen durchgesetzt. Die sachliche Unabhängigkeit wird kaum noch in Frage gestellt; die persönliche ist bereits weitgehend gesichert. | Abs. 38 |
Ein Beispiel für diesen Zeitgeist: Als Anselm von Feuerbach 1817 Präsident des Appellationsgerichts in Ansbach wird, sagt er in seiner Antrittsrede: "Der Richter empfängt, gleich dem Manne der Verwaltung, aus des Königs Hand sein Amt - aber ein Amt, das die Pflicht auf sich hat, keinem anderen Willen zu gehorchen als dem Willen des Gesetzes. Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Richters sind schon im bloßen Begriff von einem Richter so wesentlich enthalten, daß ein Gesetz oder eine Verordnung, welche den Richtern jene Selbständigkeit und Unabhängigkeit ausdrücklich zusicherte, dem Richteramt nichts beilegen würde, was es nicht schon in sich selbst besäße." (Anselm v. Feuerbach, Die hohe Würde des Richteramts, Antrittsrede vom 21. April 1817, in: Erik Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. Frankfurt/Main, 1949 S.277 ff [282]). | Abs. 39 |
Was für ein Selbstverständnis! Die bürgerliche Gesellschaft nimmt durch ihre Wahlmandate in den Parlamenten an der "Produktion" der Gesetze teil. Die Kritikebene und das damit verkoppelte Bedürfnis nach Information konzentriert sich zwar auf das Gesetzgebungsverfahren, aber folgerichtig damit auch auf die Herstellung der gesetzesgebundenen Richtigkeit im Einzelfall. Nur ein kleiner Schritt ist es mithin, um des Erfolgs der neuen Gesetzeskultur willen den Richter zu binden und diese Bindung in einzelnen Judikaten nachzuzeichnen. Was eignet sich dazu besser, als der juristische Syllogismus, der Ableitungssyllogismus. | Abs. 40 |
4. Der hier skizzierte juristische Syllogismus ist nur die rechtstechnische Seite. Die Probleme liegen wesentlich tiefer. Es geht darum, das Postulat richterlicher Unabhängigkeit in der Chiffre der formalen und materialen Rechtsstaatlichkeit einerseits und die Forderung nach Legitimation staatlicher Herrschaft andererseits in einen Ausgleich zu bringen. | Abs. 41 |
Zwei Ansätze gibt es, prinzipiell, einen personalen Ansatz und einen - lassen wir die Frage noch einstweilen offen. | Abs. 42 |
4.1 Zunächst zum personalen Ansatz. Nochmals ein Blick in die Bibel. In der 40-jährigen Wanderschaft hatte Mose stets allein "gerichtet". Sein Schwiegervater Jitro sah, daß sich sein Schwiegersohn Mose laufend überanstrengte. Bevor er einen Herzinfarkt bekäme, solle Mose einen Teil seiner Arbeit delegieren. | Abs. 43 |
Mose war einsichtig. Er schrieb die erforderlichen Richterstellen aus, in den Worten der Bibel formuliert: "Schaffet her weise, verständige und erfahrene Leute unter euren Stämmen, die will ich über euch zu Häuptern setzen" (5. Mose 1, 13). Ein Anforderungsprofil wird hinzugefügt: "Keine Person sollt ihr im Gericht ansehen, sondern sollt den Kleinen hören wie den Großen, und vor niemandes Person euch scheuen; denn das Gerichtsamt ist Gottes" (V. 17). Weisheit, Verständnis und Erfahrung, heißt es weiter, das sind die Kriterien. Das genügt jedoch noch nicht. Diese ausgesuchten Männer müssen noch über weitere Fähigkeiten verfügen, wie andere Textstellen der Bibel berichten: Sie sollen vor allem auch tapfere Männer sein; sie sollen den Mut haben, dem Recht zum Siege zu verhelfen und gegen die Gewalt eines Rechtsverletzers aufzutreten; gottesfürchtig sollen sie sein, Männer der Wahrheit und Feinde des Eigennutzes. | Abs. 44 |
Das alles eine Lösung im personalen Ansatz. Unsere Rechtsordnung kommt diesem Modell in der Berufung von Bundesverfassungsrichtern nahe. Allerdings hat man nicht davon gehört, daß die Stellen ausgeschrieben werden. Mose hat man durch zwei Vertrauensleute - Obleute genannt - der beiden sog. großen Parteien ersetzt und da wird weniger erkannt, denn ausgehandelt. In der Konsequenz dieser Lösung läge es eigentlich, daß die Entscheidungen nicht zu begründen sind. Nun, ganz so radikal will man nicht sein. Nur die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf gemäß § 93 d Abs.1 Satz 3 BVerfGG keiner Begründung. | Abs. 45 |
4.2 Das Stichwort ist damit gefallen: Die Begründungskultur. Die Deutschen sind Meister einer Begründungskultur. Unsere Verfahrensordnungen sind voller Anweisungen darüber, wie und wann und in welcher Zeit eine gerichtliche Entscheidung zu begründen ist. Feinsinnig wird zwischen Entscheidungsformel, Tatbestand und Entscheidungsgründe im engeren Sinne unterschieden. Auch der Modus ist festgehalten. Es herrscht die Schriftlichkeit als nicht aufzugebende Kulturleistung. | Abs. 46 |
Wer diese Spielregeln als Richter nicht einhält, wird mit einem absoluten Revisionsgrund konfrontiert (vgl. § 138 Nr.6 VwGO). Er darf im Sinne der Selbstkontrolle seine Arbeit von vorne beginnen. Kurz und gut: Das deutsche Prozeßrecht verläßt sich nicht auf die personale Lösung. Begründen, aber das hat auch Nachteile. Und die Gründe sind natürlich auch Akte der Selbstdarstellung, nicht nur Ausdruck des pädagogischen Eros. Alle Gerichtspräsidenten klagen darüber, daß die Begründungen der Urteile zu lang seien. Beiläufig bemerkt: Ich hatte einmal einen Präsidenten, in dessen Senat ich tätig war. Auch er klagte über die Länge. Ich fragte ihn, wie sein ideales Urteil aussehen könnte. Er hielt mir ein Beispiel vor: "Der Klage wird stattgegeben. Die Hose ist zu kurz." Jeder wisse, was Sache sei. Recht hatte er. Aber geht es stets nur um Hosen? | Abs. 47 |
III. |
Wir nähern uns dem Umfeld der gesuchten Antwort und aktivieren dazu nochmals die methodischen Anstrengungen: Der Begründung einer Entscheidung lassen sich verschiedene Funktionen zuordnen. Das soll nun beleuchtet werden. Es soll zunächst gefragt werden, für wen gerichtliche Entscheidungen begründet werden müssen. Drei Funktionen sind zu betrachten: | Abs. 48 |
1. Funktion I: Die erste Funktion ist ihrerseits eine dreifache, aber prozeßinterne: [1] Die am Rechtsstreit Beteiligten sollen erkennen können, ob der Richter ihr Vorbringen zur Kenntnis genommen und berücksichtigt hat. Hier wird das Postulat des rechtlichen Gehörs (Art.103 Abs.1 GG) kontrolliert (Kontrollfunktion I). Die Begründung ist hier Teil eines Dialoges. [2] Die Begründung ermöglicht die Klärung der Frage, ob der hoheitliche Akt einer Rechtskontrolle durch einen anderen Richter unterzogen werden kann und sollte (Kontrollfunktion II). [3] Und die Herstellung der Begründung besitzt eine sozial-psychologisch, didaktische Funktion (Erkenntnis- und Produktionsfunktion). | Abs. 49 |
Ich darf hierzu auf Heinrich von Kleist verweisen, und zwar über die "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Er schildert die Sache so: Während seine Schwester am Tisch sitzt und strickt, spricht er, Kleist, laut vor sich hin. Seine Schwester sagt nur "... mmh, mmh, meinst Du?" - Übertragen wir dies auf das Schreiben, so haben wir die Gewißheit der Richtigkeit des Satzes "über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben" hinreichend erfaßt. - Diese skizzierte Funktion der Begründung benötigt nur eine eingeschränkte Öffentlichkeit. Die Funktion betrifft nur die am Prozeß Beteiligten, andere nicht. | Abs. 50 |
2. Funktion II. Eine zweite Funktion der Begründung erfaßt Gründe, die im vorgegebenen Rechtssystem selbst liegen. Es handelt sich um Rechtssicherheit und Gleichheit. Sie sind fundamentale Prinzipien unserer Verfassung. Und hier ist das Grundgesetz bereits "voller Hinweise". Denken wir uns: A wird durch Richter R-1 zu einem Jahr Haft verurteilt. B wird durch Richter R-2 zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die Sachverhalte liegen in jeder Hinsicht gleich. Wir geben B den Hinweis, daß die Sache wegen der Unabhängigkeit der Richter verfassungsrechtlich in Ordnung gehe. B nimmt diesen Hinweis nicht an. Wen verwundert es? | Abs. 51 |
2.1 In theoretischer Perspektive heißt dies: Wir "leisten" uns die Unabhängigkeit des einzelnen Richters zwar aus gutem Grund. Wir kompensieren sie jedoch im Sinne der geforderten Legitimität richterlicher Gewalt durch einen Begründungszwang. Die Erfolge sind nicht schlecht, aber kaum hinreichend, um allseitige Gewißheit zu garantieren. Das materiale Postulat der Gleichbehandlung verlangt mehr. Es verlangt in einem bürokratisch ausgerichteten System der "Massenjudikatur" verfahrensmäßige Vorkehrungen, um zur Gleichförmigkeit zu gelangen. Feind der Gleichförmigkeit ist die Rechtsunsicherheit und die fehlende rechtliche Verläßlichkeit. | Abs. 52 |
Daher sehen unsere Prozeßordnungen vielfältige Mechanismen vor, diese Rechtssicherheit im Sinne der "Einheit des Rechts" herzustellen: Beispiele sind u.a.: Abweichungskontrolle durch Große Senate (§ 11 VwGO), durch den Gemeinsamen Senat der Obersten Bundesgerichte (Art.95 Abs.3 GG), durch Divergenzvorlage (§ 121 GVG), durch Divergenzrevision (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) oder durch Grundsatzrevision (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), durch Normenkontrollvorlage (Art. 100 Abs.1 GG) und durch Interpretationsvorlage (Art. 234 EGV). | Abs. 53 |
3. Funktion III: Art.20 Abs.3 GG spricht von Gesetz und Recht. Das soll kein Gegensatz sein, so wird gelehrt. Das ist ein Traum. Gesetz ist nach heutigem Verständnis "Menschenwerk". Es kann Schwächen enthalten, der öffentliche Schein seines Textes mag in seiner Verläßlichkeit trügen. Es gibt Lücken, verbale Schwächen, systematische Irrtümer, Fehlverständnisse, ja Mißachtung anderer Rechtsnormen. Der vorausgesetzten Rechtseinheit ist dies alles abträglich. So nähern wir uns einer dritten Funktion der Begründungspflicht. Das Stichwort lautet: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ein Satz, der Lenin zugeschrieben wird. Deshalb muß er noch nicht falsch sein. Bessern wir den Satz für unseren Zusammenhang nach: | Abs. 54 |
3.1 Im Jahre 1885 sprach Oskar Bülow in seiner Rektoratsrede in Leipzig endlich aus, was die Richter immer schon getan hatten: "Innerhalb der Schranken des Gesetzes eröffnet sich dem Richter ein weiter Spielraum selbständiger Rechtsbestimmung" (O. Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig, 1885 S.29). Aus diesem Befund ließen sich bereits für die Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches drei Fragen ableiten: | Abs. 55 |
3.1.1 Wenn dieser Befund zutraf - und er traf zu -, dann mußte sich sofort die Frage stellen, wie dann die richterliche Unabhängigkeit zu verstehen sei, war sie doch ursprünglich nur als komplementäre Funktion der Gesetzesbindung erfaßt und begründet worden. | Abs. 56 |
3.1.2 Oder anders gefragt: Was trat - vielleicht nur ergänzend - an jene Stelle, welche der Gesetzesbindung vorbehalten gewesen war? War es die "konstruktive Phantasie", wie Hermann Isay später meinte? (zu H. Isays rechtstheoretischen Ansichten vgl. G. Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung. Hermann Isay (1873-1938), 1975). War es vielmehr der Mythos vom "verborgenen Rechtsprinzip", wie es sich Josef Esser in seinen theoretischen Schriften vorstellte? Und wie - so durfte man dann wohl nachfragen - war dieses Rechtsprinzip zu erkennen, wie die konstruktive Phantasie ihrerseits im Sinne einer Legitimität zu binden? | Abs. 57 |
3.1.3 Oder war - etwas radikaler gefragt - die richterliche Unabhängigkeit inzwischen zu einer liebgewordenen Ideologie verkommen - einer Ideologie der sog. herrschenden bürgerlichen Klasse, einer Ideologie, die man nur deshalb nicht in Frage stellte und sie damit ihrer Wirkung beraubte, weil sie sich gerade ganz unabhängig von der Gesetzesbindung inzwischen als tragender Eigenwert und damit als systemstabilisierend herausgestellt hatte? Und war man vielleicht doch eher zu einem personalen Ansatz zurückgekehrt, hatte diesen niemals wirklich aufgegeben? | Abs. 58 |
3.2 Ganz offenkundig war - legt man die literarischen Stimmen der Richterschaft bis zum Ersten Weltkrieg zugrunde - für die Richter selbst kein Bedürfnis entstanden, nähere Auskunft darüber zu geben, wie sie nun selbst als unmittelbar Beteiligte diesen inneren Widerspruch zwischen nur begrenzter Gesetzesbindung und unverändertem Unabhängigkeitstheorem künftig betrachten wollten. Man bedenke: Der ältere Ihering hatte längst der Begriffsjurisprudenz den Kampf angesagt; der "Zweck im Recht" war längst erkannt, wie ausgeführt. Noch war allerdings nicht erkannt worden, daß die von Ihering inaugurierte "teleologische" Auslegung gleichzeitig auch geeignet war, die Gesetzesbindung nochmals zu relativieren. | Abs. 59 |
Ziehen wir ein erstes Resümee: Ich erwähnte Oskar Bülow und seine Einsicht in die Selbständigkeit richterlicher Tätigkeit. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts beschreibt die Lage 1995 als eine Frage des gesetzlichen Richters ungemein realistisch. Wenn die Bandbreite des individuellen Zugriffs auf die Rechtslage auch durch einen juristischen Syllogismus kaum verhinderbar ist, dann müsse man eben Schicksal spielen: In seiner Vorlage an das Plenum lieferte der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts dazu eine bemerkenswerte Begründung: Der Richter sei kein "Rechtsprechungsautomat." Vor diesem Hintergrund sei ein Richter nicht beliebig austauschbar. Aus diesem Befund folgert der 1. Senat die Notwendigkeit, daß die Zuständigkeit des Richters abstrakt festgelegt wird (BVerfG, NJW 1995, 2703; vgl. BVerfGE [Plenum] 95, 322 = JR 1997, 278 mit Anm. von J. Berkemann, JR 1997, 281; O. Katholnigg, JR 1997, 284.). Die als unvermeidbar angesehene Ergebnisbreite richterlicher Kognition muß durch die Strenge des gesetzlichen Richters im Sinne fast eines Zufallsoperators kompensiert werden. Diese interessante rechtspolitische eingesprungene Pirouette ließe sich gewiß ausbauen. | Abs. 60 |
4. Damit lautet die Frage: Verlangt die Legitimität richterlichen Entscheidens die jederzeit herstellbare öffentliche Begründung? Oder anders: Ist - auch - die Öffentlichkeit Adressat der Begründungspflicht? Bejaht man dies, so ist die gegebene Begründung einer Entscheidung nunmehr ohne Zweifel ein öffentliches Gut! Die Frage "riecht" nach einer nur rechtspolitischen Einschätzung: Aber sie "riecht" nur danach, denn das Grundgesetz ist "voller Hinweise". Man muß dazu allerdings wahrnehmungsfähig und wahrnehmungsbereit sein. | Abs. 61 |
Zur Verbesserung unserer Einsichtsfähigkeit machen wir einen Test. Ich empfehle diese Vorgehensweise den Studentinnen und Studenten in der Vorlesung über Methodenlehre. Der Test ist einfach. Er hat zwei Teile: [1] Die schwächere Variante lautet: Denken wir uns die Norm fort: Wie ist jetzt die Rechtslage? Was hat sich geändert? [2] Die stärkere Variante lautet: Wie ist die Rechtslage, wenn das Gegenteil normiert ist? Übertragen wir diesen Test auf unser Problem: Ist ein Gesetz verfassungsgemäß, das die Veröffentlichung von begründeten Entscheidungen und damit die Kenntnis durch Dritte verbietet, die nicht am Prozeß beteiligt sind? | Abs. 62 |
Wer das bestimmte Gefühl hat, daß ein derartiges Gesetz mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, sollte bei seinem Gefühl nicht stehen bleiben. Er befindet sich bereits "im grünen Bereich". Er sollte allerdings genau die Verfassungsnorm angeben. Und - das garantiere ich - er wird wie unsere beiden Jeschiwa-Schüler sagen: Natürlich nicht direkt, aber das Grundgesetz ist voller Hinweise. Ja, so ist es. Eine Reihe von Hinweisen findet sich in Art. 19 Abs. 4 GG, in Art. 20 Abs. 3 GG, in Art. 92 GG, in Art. 97 Abs. 1 GG, in Art. 103 Abs. 1 GG und im daraus abzuleitenden rechtsstaatlichen Gesamtbild. Dies alles sind wahrlich Zeichen, ja beredete Hinweise, daß unser Verfassungssystem eine richterliche Tätigkeit, die nicht öffentlich ist, mißbilligt. Non in camera, sed in publico et publicandum necesse est! | Abs. 63 |
Daß in unserem Rechtssystem die Kenntnis gerichtlicher Entscheidungen für die Rechtspraxis und anderes mehr von zentraler Bedeutung ist, muß man nicht näher begründen. Das ist wiederholt untersucht und belegt worden. Unsere gesamte Leitsatzkultur, die amtlichen Sammlungen und das Postulat des Bundesgerichtshofs, jeder Anwalt müsse aus Haftungsgründen sorgfältig die wöchentliche NJW studieren, belegen dies hinreichend. Es bestehen inhaltliche öffentliche Interessen an der Kenntnis gerichtlicher Entscheidungen, gewiß nicht aller, aber doch derjenigen, um welche es sich hier handelt. | Abs. 64 |
Hat jemand jemals für die in den sog. Amtlichen Sammlungen der Obersten Bundesgerichte publizierten Entscheidungen behauptet, der Veröffentlichung liege kein öffentliches Interesse zugrunde? Die Frage so stellen, heißt sie verneinen. Wer anders gewichten will, sollte sich dessen bewußt sein, daß er damit der Sache nach eine Wettbewerbsfrage miteinscheidet und in Wahrheit - ohne es ausdrücklich zu sagen - ökonomische Interessen Dritter als ungesagte Rahmenbedingung des Problems akzeptiert. Das muß hier nicht vertieft werden. | Abs. 65 |
5. Damit ist auch bereits hinreichend geklärt, daß die gegebene Begründung ein öffentliches Gut ist. Was denn sonst, kann man antworten. § 5 UrhG bestätigt dies. Zu Recht werden dort Entscheidungen und amtliche Leitsätze vom Urheberrechtsschutz ausgenommen (Vgl. E. Ullmann, Der amtliche Leitsatz, in: Festschrift zum 10-jährigen Bestehen der Juris GmbH, 1966, S.133 ff.; M. Huff, NJW 1997, 2651; H. Hirte, EWiR 1997, 1187; P. Tiedemann, NVwZ 1997, 1187; F. Albrecht, CR 1998, 373). Es ist ein Produkt in amtlicher Funktion, nicht eine private Leistung. | Abs. 66 |
Die Unterfrage lautet demgemäß: Kann man den Zugang zu einem öffentlichen Gut beschränken? Das kommt darauf an, wird der Jurist antworten. Auf Nachfrage erklärt er, daß es sachgerechte Gründe geben könne, den Zugang und den Nutzen eines öffentlichen Gutes zu beschränken. Der Nutzen einer im Gemeingebrauch stehenden Sache kann nicht so weit gehen, daß die Sache selbst untergeht. Das Kanzleramt definiert sich in seinem Nutzen für die Funktion der Amtstätigkeit des Kanzlers u.s.f. Für Gerichtsentscheidungen gibt es aber keine erkennbare Limitierung: Und daher hat das Bundesverwaltungsgericht durchaus Recht, wenn es 1997 als Leitsatz formulierte: "Die Veröffentlichung von Gerichtsentscheidungen ist eine öffentliche Aufgabe. Es handelt sich um eine verfassungsunmittelbare Aufgabe der rechtsprechenden Gewalt und damit eines jeden Gerichts. Zu veröffentlichen sind alle Entscheidungen, an deren Veröffentlichung die Öffentlichkeit ein Interesse hat oder haben kann. Veröffentlichungswürdige Entscheidungen sind durch Anomysierung bzw. Neutralisierung für die Herausgabe an die Öffentlichkeit vorzubereiten" (BVerwG, Urteil vom 26. Februar 1997 - 6 C 3.96 - BVerwGE 104, 105 = JurPC Web-Dok. 10/1998 = NVwZ 1997, 1209). | Abs. 67 |
IV. |
Wir nähern uns dramatisch dem Schluß unserer Untersuchung, sammeln also die Früchte der Überlegungen ein. Die Frage laute: Muß ein Gemeingebrauch für den Nutzer stets kostenlos sein? Oder sollte er es jedenfalls sein? | Abs. 68 |
1. Ich will - bevor ich mich der Antwort nähere - über ein schon älteres Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg berichten. Es ist der Fall Airey (GH 32, Ziff.21 = EuGRZ 1979, 626). Frau Airey, eine Irin, wollte sich scheiden lassen. Eine Scheidung war nur vor dem Obersten Gericht, dem High Court, in Irland möglich. Frau Airey hätte ihre Klage persönlich erheben können. Aber noch nie war in der Vergangenheit eine persönlich erhobene Klage erfolgreich gewesen. Für die Beauftragung eines Anwaltes fehlten Frau Airey die finanziellen Mittel. Irland sah damals die Möglichkeit der Prozeßkostenhilfe nicht vor. Der Gerichtshof erkannte auf einen Verstoß gegen Art.6 Abs.1 EMRK. | Abs. 69 |
Die Weisheit dieser Entscheidung liegt in der gebotenen wirklichkeitsbezogenen Rückbindung einer formalen Rechtsposition. Auch das Bundesverfassungsgericht denkt zur Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ähnlich. Ein öffentliches Gemeingut, das aus Kostengründen nicht für jedermann erreichbar ist, verliert seine vorausgesetzte Zielsetzung. | Abs. 70 |
2. Um uns nun der erfragten Lösung anzunähern, machen wir wiederum einen Test. Der Test ist einfach. Er hat auch dieses Mal zwei Teile: [1] Die erste Variante lautet: Denken wir uns eine Norm, welche die Gerichte zur kostenlosen Veröffentlichung ihrer Entscheidungen verpflichtet. Frage: Ist diese Norm verfassungsgemäß? [2] Die zweite Variante: Denken wir uns eine Norm, welche die Gerichte zur Bekanntgabe ihrer Entscheidungen und der beigefügten Begründung nur bei Zahlung eines Entgeltes verpflichtet. Frage: Ist diese Norm verfassungsgemäß? | Abs. 71 |
2.1 Es fällt schwer, einen verfassungsrechtlichen Grund zu finden, um dem Gesetzgeber in den Arm zu fallen, der Kostenfreiheit statuiert. | Abs. 72 |
Auf dem EDV-Gerichtstag 1999 beklagten anwesende Verleger, sie würden wirtschaftliche Einbußen bei kostenloser Veröffentlichung der Gerichtsentscheidungen haben. Diese Folge mag vielleicht eintreten. Ich habe seinerzeit erwidert: Der Einwand klingt nach dem britischen Heizersyndrom. Die britischen Gewerkschaften setzten angesichts der Elektrifizierung der Eisenbahn seinerzeit durch, daß der nicht mehr benötigte Heizer weiterhin, jetzt auf der E-Lok mitfuhr. Ich könnte es noch schärfer fassen: Als Gutenberg den Buchdruck "erfand" und industrialisierte, wurden die bis dahin gut beschäftigten Abschreiber arbeitslos. Man konnte ihnen nur empfehlen, das Handwerk des Buchdruckers zu erlernen. Wie bei Gutenberg stehen wir in dieser Informationsgesellschaft vermutlich im ersten Drittel eines durchgreifenden Kulturwandels. Zu diesem Wandel gehören völlig neue Informationssysteme. Ein zweiter Hinweis: Als in der Nähe von Bonn eine Brücke über den Rhein gebaut wurde, wurde der Fährmann bei Bad Godesberg arbeitslos. Die älteste Urkunde, welche den Fährbetrieb nachweist, stammt aus dem Jahr 1210. Seine auf Entschädigung gerichtete Klage wies der Bundesgerichtshof ab. Der Gerichtshof sprach vom einem günstigen Lagevorteil, der verloren gehen könne (BGH, Urteil vom 23. Mai 1985 - III ZR 39/84 - BGHZ 94, 373). | Abs. 73 |
2.2 Kann der Gesetzgeber bestimmen, daß die Gerichte zur Bekanntgabe ihrer Entscheidungen nur gegen Entgelt verpflichtet sind? Das mag wohl sein. Es gibt per se keinen Verfassungsgrundsatz, daß der Staat kostenlos Leistungen zu offerieren hat. Indes ist auch hier das Grundgesetz "voller Hinweise". | Abs. 74 |
Der Staat ist im Grundsatz ein Steuerstaat. Er darf zwar für individuelle Leistungen Gebühren und Beiträge erheben. Wann er das im Einzelfall darf, ist umstritten. Drei Bedingungen müssen jedenfalls eingehalten werden: [1] Grundsätzlich wird gefordert, daß die staatliche Leistung einem gerade individuell zurechenbaren Bedürfnis entspricht. Das ist dann nicht (mehr) der Fall, wenn mit der staatlichen Leistung ganz überwiegend öffentliche Interessen verfolgt werden. Daß eine staatliche Hand nur im öffentlichen Interesse tätig werden darf, ist ohnehin selbstverständlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. März 1994 - 4 C 1.93 - BVerwGE 95, 288 = NVwZ 1994, 1102). [2] Die Höhe des Entgeltes darf nicht übermäßig sein. Sie darf nicht prohibitiv wirken. [3] Das Entgelt muß grundsätzlich gegenüber einem vorgegebenen Marktgeschehen neutral sein. In jedem Falle sind Erwägungen, vorhandene private Leistungsträger zu schützen, sachfremd. | Abs. 75 |
2.3 Das ist derzeit die verfassungsrechtliche Ausgangslage, wenn ich sie richtig deute. Wie gesagt, auch das Grundgesetz ist "voller Hinweise". | Abs. 76 |
Die rechtliche Antwort folgt der tatsächlichen Entwicklung. Diese wird durch drei Elemente geprägt, die miteinander verzahnt sind: Die Antwort kann zum einen nicht statisch gegeben werden. Die sich entwickelnde Informationsgesellschaft schafft neue Bedürfnisstrukturen und damit neue Einsichten, was Gegenstand der erfüllbaren "Daseinsvorsorge" sein kann und zu sein hat. Die zweite Frage ist, was die Gesellschaft von ihrem Rechtssystem an Leistungen erwartet. Erwartet sie Qualitätssteigerung, Rechtssicherheit, Gleichbehandlung und demokratische Kontrolle gerade durch jedermann, wird sich dieser Gedanke mit der leicht umsetzbaren Daseinsvorsorge verbinden. | Abs. 77 |
Das alles ist indes nur äußerlich eine "bürokratische" Frage. Jede Rechtsordnung muß entscheiden, ob sie ihre Rechtsgenossen entweder als unmündige Kinder ansieht, die der Hilfe bedürfen, oder als mündige "aufgeklärte" Bürger, die sich aus ihrer Unmündigkeit mit Hilfe ihres Verstandes befreien können. "Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen", meinte Kant (Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ? [Dezember 1783]). Faulheit und Feigheit seien die Ursachen. Zudem sei es bequem, unmündig zu sein. Kant war weder faul noch feige. Aber auch er wäre bei allem Fleiß und trainierter Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, vor der Unmöglichkeit, alle Gesetzestexte in sich aufzunehmen, gescheitert. Wer den "mündigen" Bürger für sein Anliegen gewinnen will, sollte anders vorgehen. Die Informationsgesellschaft der Gegenwart braucht die "ignorantia juris" nicht nur mit der Rechtsfolge "nocet" zu therapieren, sondern kann die ignorantia mit den ihr eigenen Mitteln durch Wissen substituieren. Dafür hat sich das Grundgesetz entschieden. Es geht also um die auch verfassungsrechtliche Forderung, den Staat unter eine konkrete Informationspflicht zu stellen. Damit sind die Würfel gefallen. Die Funktionalität der Rechtsordnung verlangt Kenntnis. Die Dissonanz der Unkenntnis muß gemildert werden. Sie kann es, indem der Bürger als Adressat die Möglichkeit erhält, sich selbst die erforderlichen Kenntnisse zu verschaffen. Neu ist diese Sicht der Dinge nicht. Es ist dies vielmehr die alte Frage nach der zumutbaren und erforderlichen Hilfe zur Selbsterkenntnis. Diese zu fördern, ist eines aufgeklärten Staates in seiner Dignität würdig. Aus diesem Grunde ist der Staat gehalten, dem Rechtsunterworfenen Hilfsmittel an die Hand zu geben, sich demokratisch und rechtmäßig zu verhalten. | Abs. 78 |
V. |
Ist also die Antwort auf die Eingangsfrage wirklich noch offen? Ein geflügeltes Wort aus dem Talmud lautet: Das Licht der Tora wird ihn zum Guten führen. Das Licht hat hier nicht nur einmal gezündet. | Abs. 79 |
1. Das Bundesverfassungsgericht erklärte am 20. September 1999, es werde seine Entscheidungen kostenlos ins Internet stellen (http://www.bundesverfassungsgericht.de). Auf dem 8. EDV-Gerichtstag wurde dies bekannt gegeben. Ich persönlich hatte keinen Zweifel, daß dieser Vorgehensweise - auf Dauer gesehen - die Zukunft gehört. Und das trifft längst zu. | Abs. 80 |
2. Der Bundesgesetzgeber ist dem im Jahre 2001 gefolgt. Er hat durch § 6 Abs.9 des Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2001 (Haushaltsgesetz 2001) vom 21. Dezember 2000 (BGBl. I S.1939), verkündet am 28. Dezember 2000, § 63 Absatz 3 Satz 2 der Bundeshaushaltsordnung dahin ergänzt, daß "Gesetzestexte, Urteile des Bundesverfassungsgerichts, Urteile der obersten Bundesgerichte sowie Patentinformationsprodukte in elektronischer Form (z.B. über das Internet) unentgeltlich oder gegen ermäßigtes Entgelt bereitgestellt werden können". | Abs. 81 |
Zuvor gab es über den kostenlosen Internetzugriff Bedenkenträger. Diese Bedenken sollten begründen, daß es unzulässig sei, gerichtliche Entscheidungen - von Amts wegen - im Internet kostenlos zur Verfügung zu stellen (vgl. K. Stöhr, Gesetze im Internet - wer zahlt?, in: NJW 1999, 1440, in Erwiderung auf M. Herberger, NJW 1998, 2801 [2801]; J. Berkemann, in: Herberger/Berkemann [Hrsg.], Standort juris, S.83 ff. [113]; J. Berkemann, Jur-PC 1996, 208 [216]). Urteile und ihre Begründungen seien ein vermögenswertes Gut, das man nicht kostenlos verschenken dürfe. Sollten diese Bedenken jemals ernsthaft gewesen sein, so hat sie der Bundesgesetzgeber hinweggewischt. | Abs. 82 |
Die Entstehungsgeschichte der Gesetzesänderung läßt sich nur bedingt aufklären. Sie ist ein Arkanum. Der Regierungsentwurf vom 18. August 2000 enthält die Regelung noch nicht (BTag-Drucks. 14/4000). Der Entwurf wurde dem Haushaltsausschuß des Bundestages alsbald zur Beratung überwiesen. Der Ausschuß beschloß die Änderung am 16. November 2000. Zu ermitteln ist auch, daß die Regelung wörtlich auf einen Ergänzungsantrag der "Arbeitsgruppe Haushalt der Fraktion von SPD und Bündnis/Grünen" zurückzuführen ist. Betrachtet man die mitgeteilten Daten und weiß man zudem, daß der 9. EDV-Gerichtstag zwischen dem Einbringen des Gesetzesentwurfs und dem Beschluß des Haushaltsausschusses stattfand, ist völlig klar, was geschehen war. Der dem Bundestag vorgelegte Ausschußbericht enthält zu dieser Frage keine Begründung. Ich komme zu der anfangs versprochenen zweiten These: Teile des Gesetzgebers beobachten den EDV-Gerichtstag. | Abs. 83 |
Es bleibt noch die Frage zu klären, was der Bundesgesetzgeber unter einem "ermäßigten Entgelt" versteht. Meint er ein "gemäßes" oder ein "mäßiges" Entgelt? Ein nur "ermäßigtes" Entgelt wäre ein Entgelt, das im Regelfall höher wäre. Denn ermäßigen kann man nur, was an sich regulär sei. Aber was wäre dies, wenn das Maß selbst nicht festgelegt ist. Auch hier ist also der Text voller Hinweise. Wenden wir ihn zum Guten. | Abs. 84 |
3. So schließe ich meine Untersuchung mit einem methodischen Hinweis und einer guten Nachricht: | Abs. 85 |
3.1 In der Methodenlehre von Karl Larenz fehlt der Hinweis auf eine uns allen bekannte Auslegungsmaxime: Verstehe das Gesetz nicht so, als sei sein Verfasser der größte Depp in Deutschland! Sondern lies, welche wertvollen Hinweise es enthält. | Abs. 86 |
3.2 Die gute Nachricht ganz zum Schluß: In wenigen Tagen wird das Bundesverwaltungsgericht - wenn alles gut geht - mit seinen Entscheidungen im Internet unter http://www.bverwg.bund.de präsent sein. Kostenlos, versteht sich! Wo nichts mehr zu enträtseln ist, hört unser Anteil auf (Feuersleben, Aphorismen).
| JurPC Web-Dok. 354/2002, Abs. 87 |
* Prof. Dr. iur. utr. Dr. phil. Jörg Berkemann (1937), Richter am Bundesverwaltungsgericht in Berlin (4. Revisionssenat, zuständig für öffentliches Baurecht und Fachplanungsrecht), Honorarprofessor an der Universität Hamburg (allgemeines und besonderes öffentliches Recht einschließlich des Verfassungsrechts, Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte), zusätzliche Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg für deutsch-jüdische Geschichte. Juris-Beauftragter des Bundesverwaltungsgerichts, Stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenbeirats der juris GmbH, Mitglied des Vorstandes des EDV-Gerichtstages. |
[online seit: 18.11.2002] |
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs. |
Zitiervorschlag: Berkemann, Jörg, Freie Rechtsprechung für freie Bürger ?! - JurPC-Web-Dok. 0354/2002 |