Shahid Rahman *Plädoyer für Logik in der RechtsinformatikEin pragmatischer Ansatz zum Verhältnis zwischen juristischen Argumentationen und Logik - Konsequenzen für die Didaktik und die logische Analyse der juristischen Argumentationschemata und der Programmierungssemantik in der RechtswissenschaftJurPC Web-Dok. 194/2002, Abs. 1 - 14 |
Richter, Anwälte und Theoretiker der Rechtswissenschaften sehen sich oft veranlaßt, wie schon von Herberger/Simon angemerkt(1), über logische, sprach- und erfahrungswissenschaftliche Sachverhalte nachzudenken. Leider aber werden diese Sachverhalte oft entweder von Logikern oder Informatikern untersucht, die ein bestimmtes abstraktes System ohne juristische Kenntnisse anwenden, oder von Juristen, die dem hoch theoretischen Zugang der Logiker mißtrauen. Eigentlich aber steht seit einigen Jahren ein neuer Ansatz zur Verfügung, der aus einer neuen Formulierung zum Verhältnis zwischen juristischen Argumentationen und Logik hervorgeht, und der weiter unten detailliert beschrieben wird. Die systematische Ausarbeitung dieses Ansatzes und seiner theoretischen, praktischen und didaktischen Konsequenzen stellt eine der Hauptaufgaben einer Abteilung für Logik in der Rechtsinformatik dar. Eine solche Aufgabe, die im Rahmen der sogenannten pragmatischen Wende in der Semantik (die neuerdings auch die Informatik erreicht hat) erfüllt werden soll, bedarf der engen Zusammenarbeit von Logik-orientierten Juristen, die über die theoretischen und praktischen juristischen Fachkenntnisse verfügen und Logikern, die mit dem erforderlichen technischen Wissen und dem neuesten Stand der Forschung vertraut sind. De facto stellt die Lehre und die theoretische und praktische Analyse der juristischen Argumentationsschemata eines der Ziele der Rechtsinformatik an der Universität des Saarlandes dar. Die Einrichtung einer Abteilung für Logik in der Rechtsinformatik soll einen wissenschaftlichen und institutionalen Rahmen für das Erreichen dieses Zieles anbieten: Konkret ist u.a. die unmittelbare Vorbereitung von neuen Lehrmaterial und die Organisation einer Tagung für Rechtslogik, zu der internationale Spezialisten ihre Teilnahme zugesagt haben, geplant. | JurPC Web-Dok. 194/2002, Abs. 1 |
1. Alchourróns neuer Ansatz zum Verhältnis zwischen juristischen Argumentationen und Logik. Stand der Forschung(2) |
Es gibt eine weitverbreitete Haltung der Logiker gegenüber juristischen Argumentationsweisen. Sie besteht aus einer paternalistischen Sichtweise, wodurch juristische Argumentationen als reines Anwendungsgebiet der logischen Schlußschemata verstanden werden. Die Logik soll dieser Position zufolge als unantastbarer Maßstab fungieren. Diese Haltung beruht auf der irrtümlichen Annahme, daß die grundlegenden Prinzipien der Logik nicht in Frage gestellt werden dürfen, daß die Begriffe der Folgerung und des korrekten Schließens kontextunabhängig sind und einer Prüfung auf Zweckmäßigkeit nicht unterzogen werden müssen bzw. können. | Abs. 2 |
Carlos Alchourrón (1931-1996), der argentinische Jurist und weltweit bekannte Rechtslogiker, hatte einen ganz anderen Ansatz, der leider oft nicht nur von seinen Nachfolgern in der Logik, sondern auch in der juristischen Logik übersehen wird. Dieser Ansatz stellt das oben genannte Verhältnis zwischen Rechtswissenschaft und Logik auf den Kopf: Juristische Argumentationsweisen bilden hier den Anfang der Reflexion. Dies führte gleichzeitig zu neuen Ergebnissen in der Philosophie des Rechtes und der Logik. Ich möchte hier als Beispiel der Wirkung eines solchen Ansatzes zwei Punkte seiner Forschung herausgreifen: | Abs. 3 |
a) Die bekannte Unterscheidung zwischen Norm - verstanden als eine Handlung, die Rechte, Verpflichtungen usw. vorschreibt - und dem, was Alchourrón "propositionale Normen" nannte, mit deren Hilfe man Aussagen über diese Normen bilden kann (z.B. indem man aussagt, dass eine bestimmte Norm Teil eines gegebenen juristischen Systems ist), führte ihn zu zwei unterschiedlichen neuen deontischen Logiken, die dieser Unterscheidung gerecht werden sollten: Die Argumentationsweise bei der Anwendung der Norm z.B. "was nicht verboten ist, ist erlaubt" kann entweder als Norm in einem bestimmten juristischen System oder als propositionale Norm über das System fungieren. In dem ersten Fall ist es klar, daß das logische Gesetz der Kontraposition nicht gilt. Alchourrón beschäftigte sich auch intensiv mit der Frage, ob der Wahrheitsbegriff auf Normsätze anwendbar ist. Zunächst arbeitete er de facto mit einer wahrheitsdefiniten Normlogik. Allerdings war er mit dieser Lösung unzufrieden. Er vertrat die Auffassung, daß man eine Normlogik zwar auf Wahrheitswerte aufbauen könne, sah eine solche Logik aber nicht als das Endstadium der logischen Analyse an. In seinen letzten, unvollständigen Arbeiten findet sich eine Normlogik, die nicht mehr auf Wahrheitswerten basiert. | Abs. 4 |
b) Alchourróns Überlegungen bezüglich des Begriffes der Aufhebung von Gesetzen haben zu einer bahnbrechenden Neuerung in der Philosophie der Logik, der Informatik und in der Philosophie im allgemeinen geführt. Alchourrón und sein Kollege Eugenio Bulygin haben in dem heute zum Klassiker gewordenen Buch Normative Systems (Wien: Springer, 1971) das Problem der Unbestimmtheit bei der Durchführung von Abrogationen und Derogationen untersucht - soll bei der Aufhebung von Gesetzen auch alles, was aus ihnen folgt, aufgehoben werden? Wenn dem so ist, ist es klar, daß dies nicht vollständig explizit gemacht werden kann. Diese Überlegungen wurden mit dem Problem des Change of Belief verknüpft, und dadurch wurde die Diskussion auf einen umfassenderen Kontext bezogen. Die Zusammenarbeit mit Peter Gärdenfors und David Makinson ergab den heute berühmten Aufsatz "On the logic of theory change: contraction functions and their associated revision functions" (Journal of Symbolic Logic, 1985, Bd. 50, S. 510-530, heute unter den Namen AGM-Paper bekannt). Dieser Aufsatz und die nachfolgenden Arbeiten des Trios AGM haben zur Untersuchung des Problems der Dynamik des Wissens geführt, die an der Erforschung der Nicht-Monotonie anknüpft. | Abs. 5 |
2. Methodologische und didaktische Konsequenzen des neuen Ansatzes und das neue Interesse der Informatik an der spieltheoretischen Semantik |
Erst kürzlich ist es offensichtlich geworden, daß es ein stetig wachsendes Interesse an der Erforschung der Dialogischen Logik und der damit eng verwandten spieltheoretischen Semantik gibt, das sich von unterschiedlichen Forschungsrichtungen herleitet(3). Mehrere Faktoren - manche dieser Faktoren hängen mit der Art der Produktion von Logiken zusammen, andere mit neuen Richtungen in der Programmierungssemantik - sind für diesen neuen Impuls verantwortlich, der vor allem in den Computerwissenschaften und der Künstlichen Intelligenz zum Tragen kommt. Bevor ich einige dieser Faktoren kurz beschreibe, noch ein paar Worte über den Zusammenhang zwischen dem genannten neuen Ansatz zur Rechtslogik und der dialogischen und spieltheorethischen Semantik - ein Zusammenhang, deren Konsequenzen noch zu wenig untersucht wurden. | Abs. 6 |
Eine durch den Ansatz eingebrachte Forschungs- und Lehrmethodologie sollte doch nicht von vornherein die syntax-semantische Unterscheidung der mathematischen Formulierung der Logik unkritisch übernehmen. (Diese Unterscheidungen sollten eher aus der Betrachtung der juristischen Schlußweise(n) als eine Handlung hervorgehen, in der ein Opponent und ein Proponent um eine These argumentieren.) Es sollte demnach zuerst einmal semantisch in die Logik eingeführt werden. Die Syntax sollte als eine Kalkulisierung, die auf dieser Semantik aufgebaut ist, betrachtet werden. Dies ergibt einen völlig anderen Zugang zur Erforschung und Lehre der Logik, in der Inhalt und Form dem Kontext der Rechtswissenschaften angepaßt werden - dieses kann man schon ansatzweise bei Herberger/Simon sehen, wo Semantische Bäume als Entscheidungsverfahren eingeführt wurden, statt die üblichen Kalküle anzuwenden. | Abs. 7 |
Nun kann man aber noch einen (pragmatischen) Schritt weiter gehen, indem für die Semantik statt der Wahrheitswerte argumentative Gebrauchsregeln angeführt werden, die bezüglich der Züge zwischen zwei Dialogpartnern definiert sind. Dies beruht auf der dialogischen Deutung der Logik, die von Paul Lorenzen angeregt und von Kuno Lorenz ausgearbeitet wurde, und ist die erste Semantik der Logik, die sich der Herausforderung des handlungs- und normierungsorientierten Ansatzes gestellt hat(4). Mit Hilfe dieses pragmatischen Ansatzes haben Shahid Rahman und seine Forschungsgruppe neue Logiken erzeugt, die sich kombinieren lassen, um, wenn dies der Kontext erfordert, wieder neue zu entwickeln. Diese Vorgehensweise knüpft an der Idee an, daß es keine endgültige Regeln in der Logik gibt, sondern verschiedene Normierungsmöglichkeiten, die für unterschiedliche Kontexte geändert werden können. Eine Flexibilität, die den vielfältigen Formen der juristischen Argumentationsschemata zugute kommen sollte. | Abs. 8 |
Kehren wir zu den Faktoren des neuen Interesses an diesem Typ von Semantik zurück: | Abs. 9 |
2.1 Faktoren, die mit der Art der Produktion und Kombination von Logiken zusammenhängen(5): |
Eine neue Nachfrage nach einer Vielfalt von logischen Systemen, die den unterschiedlichsten Anwendungen dienen können, ist von der Künstlichen Intelligenz, den Computerwissenschaften und der Linguistik, sowie von der juristischen Argumentation, der Philosophie und der Psychologie ausgegangen. Diese Nachfrage hat eine intensive Erforschung alter und neuer Logiksysteme bewirkt. Die Frage, wie ein gemeinsamer allgemeiner Rahmen zur Erforschung der meisten dieser Logiken formuliert werden könne, erlangte nun besondere Wichtigkeit. Ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung war die Formulierung einer Bedingung, die mitunter als Doen's Principle bekannt ist, und die vorschlägt, alternative logische Systeme durch Abänderung von Strukturregeln gegen einen festen Hintergrund von Regeln für die logischen Partikeln zu gewinnen. Tatsächlich stellt ein analoges Prinzip ein Charakteristikum der Dialogischen Logik dar. Die Regelmenge ist in der Dialogischen Logik unterteilt in Partikelregeln und Rahmenregeln. Die Partikelregeln bestimmen für jede logische Partikel, wie die entsprechenden Formeln angegriffen und verteidigt werden können, während die Rahmenregeln den generellen Ablauf eines Dialogs festlegen. Nun ist es sehr einfach zu sehen, daß man unterschiedliche logische Systeme erhalten kann, indem man die Menge der Rahmenregeln unter Beibehaltung der immer gleichen Menge von Partikelregeln abändert. So unterscheiden sich die klassische und die intuitionistische Logik in ihrer dialogischen Formulierung z. B. nur in einer Rahmenregel. Die umgekehrte Herangehensweise ist ebenfalls möglich: Man kann unterschiedliche Logiken auch durch die Einführung neuer Partikel erhalten. Ein bekanntes Beispiel für die Formulierung von Logiken mit der Hilfe von neuen Partikeln ist Jean-Yves Girards linear logic. Von daher kann man diese Strategie bei der Entwicklung von Logiken Girard's Principle nennen. | Abs. 10 |
2.2 Faktoren, die mit der Programmierungssemantik zusammenhängen: |
Die lineare Logik gilt als eine der geeignetsten formalen Darstellungen des Programmierens von deduktiven Prozessen, in denen Informationsaustausch eine wichtige Rolle spielt. Seit der Veröffentlichung von Andreas Blass' Aufsatz A Game Semantics for Linear Logic (1992)(6) sind mit der Hilfe von Girard's Principle verschiedene dialogische Systeme für lineare Logik entwickelt worden, die unterschiedliche Mengen an linearen Partikeln beinhalten (siehe z. B. die Arbeiten von Samson Abramsky (1997)(7) und Martin Hyland (1997)(8)). Zudem behauptet Jean-Yves Girard, der Vater der linearen Logik, in seinen neueren Arbeiten, daß die Bedeutung der logischen Partikel in einer dialogischen Semantik gesucht werden solle, die davon ausgeht, daß die Bedeutung der logischen Partikel sich in den Regeln selbst finden läßt. In der Tat ging die Dialogische Logik aus einem neuen pragmatischen Verständnis von Semantik hervor, das aus der Übertragung von Wittgensteins Sicht der Bedeutung als Gebrauch - eingefangen durch die Formulierung von entsprechenden Gebrauchsregeln - auf das Gebiet der Logik resultierte. Desweiteren kann gemäß Blass und Girard der Vorteil einer dialogischen Semantik für lineare Logik gegenüber anderen Arten von Semantiken mit Hilfe der folgenden Beobachtung ausgedrückt werden: | Abs. 11 |
My thesis is that the meaning of logical rules is to be found in the well-hidden geometrical structure of the rules themselves: typically, negation should not be interpreted by NO, but by the exchange between Player and Opponent.. (9) | Abs. 12 |
Nun ist auf der einen Seite Blass' Spiele-Semantik zwar sehr ansprechend, beschreibt aber tatsächlich affine Logik (in der eine gewisse Art der Vereinfachung bei den Multiplikativa gilt), und nicht die lineare Logik. Andererseits ist Girards Spiele-Semantik sehr kompliziert, und die Verbindung zu den semantischen Intuitionen ist nur schwer nachzuvollziehen. | Abs. 13 |
Eines der Forschungsvorhaben der Logikabteilung in der Rechtsinformatik ist es, eine neue dialogische Semantik für lineare Logik anzubieten (ohne Vereinfachung für die Multiplikativa), die Ideen aus der dialogischen Relevanzlogik(10) aufgreift, und die in der Lage ist, die für die Programmierung juristischer Argumentationen typische Dynamik einzufangen, einschließlich des durch die Negation verursachten Rollenwechsels. Die Idee ist, daß Argumente nicht nur Abfolgen von Beweisschritten sind, sondern daß sie auch interaktive Schritte enthalten, wobei Informationen ausgetauscht, zurückgezogen, gesammelt oder getestet werden können.
| JurPC Web-Dok. 194/2002, Abs. 14 |
Fußnoten:(1) Vgl. Herberger/Simon (1980,), Wissenschaftstheorie für Juristen, Frankfurt a.M.:Alfred Metzner Verlag, S. V.(2) Vgl. Rahman/Armgardt (2000), Carlos E. Alchourrón (1931-1996) ein Pionier der Rechtslogik. JurPC, Web-Dok. 24/2000, September, Abs. 1-10. (3) Vgl. Rahman/Rückert (2000), New Perspectives in Dialogical Logic: Prologue. With Helge Rückert. In New Perspectives in Dialogical Logic. Herausgegeben von S. Rahman und H. Rückert - mit Beiträgen von u.a. P. Blackburn (Saarbücken), D. Gabbay (Oxford), J. Hintikka (Boston), E. Krabbe (Groningen), K. Lorenz (Saarbrücken), G. Sandu (Helsinki) und J.P. van Bendengem (Brüssel). 2001 als Band der Zeitschrift Synthese erschienen. (4) Vgl. Lorenzen/Lorenz (1978), Dialogische Logik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. (5) Vgl. Rahman/Rückert (2000), Eine neue Semantik für Lineare Logik. Mit Helge Rückert. K.F. Gethmann Konstruktive Logik: Neue Entwicklungen, Frankfurt: Suhrkamp; 2000 (6) Vgl. Blass, A. (1992), A Game Semantics for Linear Logic. Annals of Pure and Applied Logic, 56, S. 183-220. (7) Abramsky, S. (1997), Semantics of Interaction: an Introduction to Game Semantics, in A. Pitts and P. Dybjer (Hg.), Semantics and Logics of Computation, Cambridge: Cambridge University Press, S. 1-31. (8) Vgl. Hyland, M. (1997), Game Semantics, in A. Pitts and P. Dybjer (Hg.), Semantics and Logics of Computation, Cambridge: Cambridge University Press, S. 131-182. (9) Vgl. Girard, J.-Y. (1998), On the Meaning of Logical Rules In: Syntax vs. Semantics, Typoscript. Siehe dazu den Abschnitt über die lineare Negation. (10) Vgl. Rahman,/Rückert, H. (1998), Dialogische Logik und Relevanz, FR 5.1 Philosophie, Universität des Saarlandes, Memo Nr. 27, Dezember 1998. |
* Dr. Shahid Rahman ist Professor an der Universität Lille 3 (Sciences Humaines) und dort Inhaber des Lehrstuhls für Logik. Studium der Philosophie, Mathematik, Chemie und Psychologie in Argentinien (Blanca, Buenos Aires) und Deutschland (Erlangen und Saarbrücken: Promotion und venia legendi). Forschungs- und Lehrtätigkeiten u.a. in Argentinien, USA, Frankreich. Forschungsschwerpunkte: Philosophie und Geschichte der Logik, Logik und Argumentationstheorie, Epistemologie, Philosophie der Sprache. Über 60 Veröffentlichungen darunter 8 Bücher. Hauptherausgeber mit John Symons (Boston) der neuen Reihe in Kluwer: LOGIC, EPISTEMOLOGY AND THE UNITY OF SCIENCE. |
[online seit: 01.07.2002] |
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs. |
Zitiervorschlag: Rahman, Shahid, Plädoyer für Logik in der Rechtsinformatik - JurPC-Web-Dok. 0194/2002 |