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| Reinhard Gaier* | | | | | Strukturiertes Parteivorbringen im
Zivilprozess | | | JurPC Web-Dok. 133/2015, Abs. 1 - 22 | | | | |
| | | Der 70. Deutsche Juristentag hat im vergangenen die
Notwendigkeit einer Reform der ZPO erkannt und hierzu mit knapper
Mehrheit den bemerkenswerten Beschluss gefasst, über
„verbindliche Regelungen" sei „sicherzustellen, dass die
Parteien ihren Vortrag zum tatsächlichen und rechtlichen
Vorbringen strukturieren." Unklar ist jedoch, mit welchen Inhalten
die Formel von der Strukturierung zu füllen ist. Der Beitrag
versucht daher eine Antwort auf die Frage zu finden, wie eine
zielführende Ordnung des Parteivorbringens durch Vorgaben zur
Strukturierung erreicht werden kann. | Abs. 1 | | I. Einleitung | | | Mit dem Zivilprozessrecht beschäftigen sich zwar
Tag für Tag tausende Juristinnen und Juristen in Deutschland,
gleichwohl - oder gerade wegen dieser „Alltäglichkeit" -
findet diese Rechtsmaterie weder in der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung noch in der Reformdiskussion die ihr
gebührende Aufmerksamkeit. Umso erfreulicher war es deshalb,
dass sich die prozessrechtliche Abteilung des 70. Deutschen
Juristentages im vergangenen Jahr mit dem Thema „Der Richter
im Zivilprozess - Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß?"
befasste. Es mag darüber gestritten werden, ob der Juristentag
dem eigenen ambitionierten Anspruch durchgehend Genüge getan
und „Instrumente" gefunden hat, um „den Zivilprozess
modern, attraktiv und effektiv zu gestalten".[1] Bisweilen jedenfalls muten nicht
nur die von einigen Referenten formulierten Thesen[2], sondern auch die gefassten
Beschlüsse[3] eher
konventionell,[4] ineffektiv[5] oder in
Teilen auch oberflächlich[6] an. Freilich gibt es eine bemerkenswerte Ausnahme, die
innovativen Willen zumindest erahnen lässt. Wenn auch mit nur
knapper Mehrheit[7] wurde
doch immerhin der Beschluss gefasst,[8] über „verbindliche Regelungen"
sei „sicherzustellen, dass die Parteien ihren Vortrag zum
tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen strukturieren."
Flankiert wird diese Entscheidung durch einen zugehörigen
weiteren Beschluss,[9] wonach mit dieser Strukturierungsvorgabe „eine Verpflichtung
des Gerichts zu vertiefter Prozessleitung" verbunden sein soll,
„die bei Wahrung des rechtlichen Gehörs zu einer
Abschichtung des Vortrages führt." | Abs. 2 | | Die prozessrechtlichen Beschlüsse des Juristentages
fanden zwar im Grundsatz beim zuständigen Bundesminister die
ihnen gebührende Aufmerksamkeit und Aufgeschlossenheit, soweit
es um die Prüfung dreier eher übersichtlichen Vorhaben
geht, nämlich um die Einrichtung von Spezialkammern, um die
Optimierung des Sachverständigenbeweises und um die
Vertraulichkeit von Gerichtsverfahren.[10] Eher vorsichtig und zurückhaltend war
die Reaktion des Ministers hingegen bei der Frage nach etwaigen
„Vorgaben für Anwaltsschriftsätze"; in einem
Interview gab er zur Antwort, dass dieses Thema „zumindest
bisher in unserer Planung nicht vorgesehen" sei.[11] Dieses bedachtsame Vorgehen
mag dem Umstand geschuldet sein, dass der Inhalt struktureller
Vorgaben für anwaltliche Schriftsätze im Zivilprozess noch
gänzlich ungeklärt ist, die Diskussion hierüber also
erst am Anfang steht. Es ist also an der Zeit, die Formel von der
Strukturierung mit Inhalten zu füllen. Mit anderen Worten ist
eine Antwort auf die Frage zu finden, wie eine zielführende
Ordnung des Parteivorbringens durch Vorgaben zur Strukturierung
erreicht werden kann. | Abs. 3 | | II. Grundsätzliche Möglichkeiten zur
Strukturierung | | | 1. Horizontale oder vertikale Strukturierung | | | Grob gesprochen kann eine Strukturierung entlang von
zwei Grenzlinien erfolgen: (1.) Horizontal, indem der Ablauf des
Erkenntnisverfahrens in verschiedene Abschnitte geteilt und die
Zulässigkeit von Parteivorbringen diesen Verfahrensabschnitten
entsprechend zugeordnet wird; vergleichbar etwa dem
„Schuldinterlokut" wie es für Strafprozesse in der
Schweiz realisiert und für Deutschland immer wieder in der
Diskussion ist. Oder aber (2.) vertikal, indem man sich an den
beiden Parteien im Zivilprozess orientiert und ihnen mit der
Parteirolle verbundene Obliegenheiten für ihre Mitwirkung,
insbesondere für den Vortrag des Prozessstoffs, zuweist. | Abs. 4 | | Der zweite Ansatz, also eine vertikale Strukturierung
soll hier weiterverfolgt werden; denn er ist bereits im geltenden
Zivilprozessrecht angelegt, erfordert also keine grundlegende
Neuausrichtung. Der im Zivilprozessrecht noch immer geltende
Beibringungsgrundsatz macht es ohnehin den Parteien zur
Obliegenheit, dem Gericht den Prozessstoff in Form von Behauptungen
und Beweismitteln vorzutragen. In der Konsequenz dieser
Prozessmaxime sind regelmäßig nur solche
rechtserheblichen Tatsachenbehauptungen beweisbedürftig, die
vom Prozessgegner bestritten (§ 138 III ZPO) und von der
beweisbelasteten Partei unter Beweis gestellt worden sind. | Abs. 5 | | 2. Der Beibringungsgrundsatz als Basis vertikaler
Strukturierung | | | Der Beibringungsgrundsatz ermöglicht eine
Entscheidungsfindung in vernünftiger, prozessökonomisch
sinnvoller und effektiver Weise; denn die Parteien, die im
Zivilprozess zuvörderst ihre eigenen Interessen verfolgen und
durchsetzen wollen, werden mit der Beschaffung und dem Einbringen
des Prozessstoffs in den Rechtsstreit belastet. Dem Anspruchsteller,
regelmäßig also dem Kläger, obliegt es, den
Sachverhalt, auf den er seinen Anspruch in tatsächlicher
Hinsicht gründet, in Erfahrung zu bringen, sich die
nötigen Beweismittel zu sichern und das Ergebnis seiner
Vorbereitung unter Beachtung der Wahrheitspflicht (§ 138 I ZPO)
dem Gericht als seinen Parteivortrag zu präsentieren. Damit
dies in sinnvoller und erfolgversprechender Weise geschehen kann,
muss der Kläger zumindest eine Anspruchsgrundlage in den Blick
nehmen und im Wege einer begleitenden Subsumtion darauf bedacht
sein, dass das Tatsachenmaterial auch die erforderlichen
Tatbestandsmerkmale erfüllt. Beachtet er das nicht, ist sein
Vorbringen unschlüssig und seine Klage schon deshalb - ohne
jede Beweiserhebung - abweisungsreif. Wird demnach eine Klage ohne
hinreichend sorgfältige Tatsachen- und Rechtsprüfung
erhoben, so stellt das aus Sicht einer nicht anwaltlich vertretenen
Prozesspartei einen kostspieligen Fehler dar, während es
für einen beauftragten Rechtsanwalt eine regelmäßig
zu Schadensersatz verpflichtende Vertragsverletzung bedeutet. | Abs. 6 | | Für den Anspruchsgegner, im Regelfall also für
den Beklagten, gilt vice versa, dass er in tatsächlicher und
rechtlicher Hinsicht für seine Verteidigung gegen die Klage
alleine verantwortlich ist. Er muss sich überlegen, ob er unter
Beachtung der auch ihn nach § 138 I ZPO treffenden
Wahrheitspflicht sich erfolgversprechend gegen die Klage zur Wehr
setzen kann und will. Hierfür bieten sich ihm im Grundsatz vier
Möglichkeiten: Er kann (1.) das Klägervorbringen - soweit
nach § 138 IV ZPO zulässig - mit Nichtwissen bestreiten[12] oder (2.) das
Klägervorbringen durch „schlichtes Bestreiten" oder
„Klageleugnen" in Abrede stellen.[13] Zudem kann er sich (3.) mit
„substantiiertem" oder „motiviertem Bestreiten" in Form
einer Gegendarstellung wehren[14] oder (4.) Gegenrechte geltend machen, also den Weg
eines selbständigen Verteidigungsvorbringens wählen.[15] | Abs. 7 | | Die letztgenannten Gegenrechte sind in dreifacher Form
als prozessuale „Einreden" denkbar, nämlich (1.) als
rechtshindernde Einwendungen, die das Entstehen eines Rechts
entgegen dem Regelfall ausschließen, wie etwa mangelnde
Geschäftsfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB,
Gesetzwidrigkeit nach § 134 BGB, Sittenwidrigkeit nach §
138 BGB oder Anfechtung nach §§ 119 ff., 123 BGB (wegen
der Rückwirkung nach § 142 BGB).[16] Ferner (2.) sind rechtsvernichtende
Einwendungen, die ein entstandenes Recht nachträglich
untergehen lassen, möglich, wie etwa Erfüllung nach §
362 BGB, Erlass nach § 397 BGB, befreiende Schuldübernahme
nach §§ 414, 415 BGB, Rücktritt nach §§ 346
ff. BGB, Kündigung nach § 314 BGB, Wegfall der
Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB oder Aufrechnung nach
§§ 387 ff. BGB.[17] Schließlich kommen rechtshemmende Einreden -
also „dilatorische" und „peremptorische" Einreden im
Sinne des materiellen Rechts - in Betracht, mit denen ein
Leistungsverweigerungsrecht geltend gemacht wird, wie etwa
Stundungsabrede, Zurückbehaltungsrecht nach § 273 BGB,
Einrede des nicht erfüllten Vertrages nach §§ 320,
322 BGB oder Verjährung nach § 214 BGB.[18] Bestreitet der Beklagte nicht
oder nicht wirksam oder erfüllt sein Vorbringen nicht die
Tatbestandsvoraussetzungen einer Gegennorm in Form einer Einwendung
oder Einrede, so ist sein Vorbringen unerheblich und der Klage schon
deshalb - ohne Aufklärung des Sachverhalts durch Beweisaufnahme
- stattzugeben. | Abs. 8 | | 3. Effektivitätsgewinne infolge des
Beibringungsgrundsatzes | | | Insgesamt zeigt sich so ein System vorrangig
eigenverantwortlicher Prozessführung, das den Parteien die
Obliegenheiten zur Beschaffung und Präsentation des
Tatsachenstoffs zuweist. Ihre besondere Effektivität erlangt
diese Verfahrensgestaltung dadurch, dass die rechtliche Relevanz
dieser Tatsachen vorrangig zu prüfen ist, damit den
unnötigen Aufwand einer Ermittlung des tatsächlichen
Geschehens ersparen, also zügig zur Entscheidungsreife und
schneller Entscheidung des Rechtsstreits führen kann. | Abs. 9 | | Die Vorteile des Beibringungsgrundsatzes werden
besonders deutlich bei einem Vergleich mit dem Gegenmodell, der
Inquisitionsmaxime. Sie gilt namentlich im Strafverfahren und
verpflichtet das Gericht von Amts wegen zur vollständigen
Aufklärung des Sachverhalts. Im Zivilprozess erspart man den
Gerichten diese Mühe; sie erscheint unnötig, weil das
öffentliche Interesse an einer auch in tatsächlicher
Hinsicht „richtigen" Entscheidung nicht im Vordergrund steht
und der Staat prinzipiell davon ausgehen darf, dass Private dazu in
der Lage sind, die Voraussetzungen für die Erkenntnis und die
Durchsetzung ihrer Rechte mit Hilfe staatlicher Gerichte
eigenverantwortlich und selbständig zu schaffen. Dabei geht es
nicht um Liberalismus als Selbstzweck, nicht um ein prozessuales
Laissez-faire; der Beibringungsgrundsatz ist vielmehr eine Methode
der Schonung öffentlicher Ressourcen, er soll unnötigen
Aufwand der Gerichte bei der Streitentscheidung vermeiden. | Abs. 10 | | Hiernach lässt sich feststellen, dass die
Bearbeitung des Prozessstoffs mit dem Ziel der Rechtsfindung einer
bestimmten, inneren Logik folgt und nach deren Vorgaben die
Verantwortlichkeiten unter den Parteien geteilt werden: Im Regelfall
ist der Kläger für die anspruchsbegründenden
Tatsachen verantwortlich. Demgegenüber trifft typischerweise
den Beklagten die prozessuale Verantwortlichkeit für die
Verteidigung, sei es in Form des Bestreitens in den verschiedenen
Varianten, sei es in Form des Vortrags zu Gegennormen, also von
anspruchshindernden, -vernichtenden oder -hemmenden Tatsachen. | Abs. 11 | | III. Strukturierungsdefizite des geltenden
Rechts | | | Diese prozessuale Rationalität der
Entscheidungsfindung spiegelt sich allerdings in den Vorschriften
der ZPO zur Präsentation des Parteivorbringens nicht einmal in
Ansätzen wieder. Einschlägige Norm zum „Inhalt der
Schriftsätze" ist - für die Klageschrift i.V.m. § 253
IV ZPO - § 130 ZPO: Abgesehen von eher technischen Formalien -
wie der Bezeichnung der Parteien in Nr. 1 und dem
Unterschriftserfordernis in Nr. 6 - verlangt die Vorschrift nur,
dass Anträge schriftsätzlich angekündigt werden (Nr.
2) und Angaben zur Klagebegründung (Nr. 3), zur Klageerwiderung
(Nr. 4) und zu den Beweisangeboten erfolgen sollen. | Abs. 12 | | Folge dieser nur oberflächlichen Regelung sind
Missstände, die aus dem Gerichtsalltag in Deutschland
hinlänglich bekannt sind: Es gibt keine „Kunst der
Anfertigung von Schriftsätzen"[19], jeder schreibt nach seinen
persönlichen Vorlieben aufs Geratewohl, nicht selten am Thema
und regelmäßig am Vortrag des Gegners vorbei. Dies ist
treffend als Austausch „formloser Parteiaufsätze"
charakterisiert worden.[20] Die Gründe für diese unzulängliche
Regelung des Inhalts von Schriftsätzen liegen weit in der
Vergangenheit, nämlich in der Zeit vor 1877. Nach der
ursprünglichen Konzeption des Zivilverfahrensrechts sollte das
Mündlichkeitsprinzip radikal verwirklicht werden. Das Ideal
eines Zivilrechtsstreits hat Adolph Leonhardt, der als Vater der CPO
von 1877 gilt, wie folgt beschrieben: | Abs. 13 | | „… die mündliche Verhandlung bildet
für den Richter die alleinige Kenntnißquelle. …
Die streitenden Theile treten vor dem Gericht auf, tragen ihm ihr
rechtliches Begehren mündlich vor und empfangen durch den Mund
des Gerichtsvorsitzenden ihr Urtheil."[21] | Abs. 14 | | Auf der Grundlage dieser Konzeption, bei der
Schriftsätze und damit auch deren Inhalt weithin ohne Bedeutung
waren, beruht auch der im Wesentlichen unveränderte § 130
ZPO. Allerdings steht heute außer Frage, dass das
ursprüngliche Konzept der Mündlichkeit längst
gescheitert und durch starke Elemente der Schriftlichkeit ersetzt
worden ist.[22] Es
wäre also nur konsequent, auch § 130 ZPO in der bisherigen
Fassung aufzugeben; denn das Regelungsdefizit hinsichtlich des
Inhalts von Schriftsätzen führt zu einer grandiosen
Verschwendung richterlicher Arbeitskraft. So gehört es heute zu
den vorrangigen richterlicher Aufgaben, den unkoordinierten, nicht
selten unnötig ausufernden und redundanten Parteivortrag aus
den gewechselten Schriftsätzen abzugleichen und auf Bestreiten
sowie zugehörige Beweisangebote zu untersuchen. Es geht um das
oft mühevolle und zeitraubende Unterfangen des Erstellens eines
Aktenauszugs in Anwendung der „Relationstechnik". | Abs. 15 | | IV. Weiterentwicklung des Beibringungsgrundsatzes zu
koordiniertem Vortrag | | | Unter der Geltung des Beibringungsgrundsatzes muss das
Erstellen einer Relation indessen nicht zwingend allein richterliche
Aufgabe sein: Da den Parteien die Verantwortung für den
Prozessstoff obliegt, können sie auch verpflichtet werden, das
Gericht bei der Ordnung des Prozessstoffs soweit wie möglich zu
unterstützen. Hier müssen mithin die Überlegungen
für eine vertikale Strukturierung des Parteivortrags ansetzen.
Voran zu stellen ist sind aber Vorbehalte in zweifacher Hinsicht:
(1.) Nur die zwingende anwaltliche Vertretung stellt im konkreten
Rechtsstreit sicher, dass die Parteien in den geforderte
Koordinierung und den anschließenden Dialog mit dem Gericht
eintreten können und nicht überfordert werden; die
folgenden Überlegungen gelten daher nur für den
Anwaltsprozess nach § 78 ZPO. Es ist (2.) die strikte Beachtung
richterlicher Hinweis- und Aufklärungspflichten von besonderer
Bedeutung. Noch mehr als bisher wird judicial activism schon
unmittelbar nach dem Einreichen der Klageschrift unverzichtbar sein,
um die Parteien zu genügendem Vortrag und fundierter
rechtlicher Prüfung anzuleiten. Gerade in dieser Hinsicht gilt
es, das hier nur im Ansatz skizzierte Prozessmodell auch unter dem
Gesichtspunkt rechtsstaatlicher wie gleichheitsgerechter
Justizgewährung in Richtung eines Dialogs des Gerichts mit den
Parteien zu entwickeln. | Abs. 16 | | Mit diesen Maßgaben führt ein folgerichtiges
Weiterdenken des Beibringungsgrundsatzes dazu, dass den anwaltlich
vertretenen Parteien zur Pflicht gemacht wird, ihr Vorbringen zu
koordinieren.[23] Zwangsläufig ist es der Kläger, der den ersten Zug machen
und den Rechtsstreit eröffnen muss. Er kann dies allerdings
nicht in beliebiger, frei gewählter Form tun, sondern muss sich
für eine oder mehrere - auch alternative, also hilfsweise
verfolgte - Anspruchsgrundlagen entscheiden und gemäß
deren tatbestandlicher Voraussetzungen vortragen. Die konkreten
Tatbestandsmerkmale lassen sich im Gesetz, in der Literatur oder in
der Rechtsprechung finden. Sie sind für jeden geltend gemachten
Anspruch im Einzelnen und Schritt für Schritt mit den
nötigen Tatsachenbehauptungen nebst etwaigen Beweisangeboten zu
belegen. Danach ist es am Beklagten, den zweiten Zug zu tun. Er muss
bei seiner Klageerwiderung der Struktur folgen, die mit der
Klageschrift vorgegeben ist, und sich - soweit er nicht Vortrag
unstreitig stellen will - präzise zu jeder einzelnen Behauptung
des Klägers äußern. Hierbei hat er sich der Formen
des schlichten oder des motivierten Bestreitens oder - soweit
zulässig - des Bestreitens mit Nichtwissen zu bedienen und
hierbei ggf. auch verfügbaren Gegenbeweis anzubieten.
Selbstredend bleibt ihm auch der Weg einer Verteidigung durch
Einreden im prozessualen Sinne. Dies ist für den Beklagten
allerdings mit den Verpflichtungen der nun ihn treffenden Vortrags-
und Beweislast verbunden. Vergleichbar den Obliegenheiten des
Klägers zur Klagebegründung ist es hier Sache des
Beklagten, strukturiert vorzutragen und im Einzelnen die
tatsächlichen Voraussetzungen und Beweisangebote für die
geltend gemachten rechtshindernden, rechtsvernichtenden oder
rechtshemmenden Gegennormen präzise darzulegen. Im dritten Zug
hat dann der Kläger an diesen Aufbau für seine Erwiderung
punktgenau in Form der Duplik anzuknüpfen. Bei einer etwaigen -
in der Praxis seltenen - Triplik und weiteren Stationen ist das
Vorbringen von Kläger und Beklagtem entsprechend zu
strukturieren. Auch soweit im Anschluss an Klagebegründung und
Klageerwiderung in weiteren anwaltlichen Schriftsätzen
Tatsachenvortrag oder Rechtsausführungen gemacht werden, muss
das Vorbringen so erfolgen, dass es einzelnen Behauptungen oder
Meinungen des Prozessgegners zuordenbar ist. | Abs. 17 | | Mit einem derart strukturierten Vorbringen ist es dem
Richter ohne weiteres möglich, sich in umfangreichen Sachen
einen Aktenauszug zu erstellen oder bei einfachen Sachverhalten
unmittelbar anhand der Schriftsätze einen Überblick
über das Vorbringen zu erhalten. Hieran kann dann zügig
die rechtliche Prüfung anschließen und bei
Entscheidungsreife bereits in ein Urteil, ansonsten in einen
Beweisbeschluss mit präzise gefasstem Beweisthema münden.
In jedem Fall muss dieser Verfahrensabschnitt durch die strikte
Beachtung richterlicher Hinweis- und Aufklärungspflichten
flankiert werden. Erkennt das Gericht etwa, dass es für die
Klageforderung eine taugliche Anspruchsgrundlage geben kann, die der
Kläger aber mit dem von ihm gewählten Weg verfehlt, so
muss es sogleich nach Vorliegen der Klageschrift hierauf hinweisen
und ausreichend Gelegenheit zur Nachholung des nötigen Vortrags
geben. Das strukturierte Vorbringen lässt solche Defizite
leicht erkennen und macht es zumutbar, einerseits gerichtliche
Hinweispflichten zu intensivieren und andererseits deren
Nichtbeachtung durch strenge Präklusionsbestimmungen zu
sanktionieren. Das Verfahren entwickelt sich damit weiter in
Richtung einer Kooperation und begleitenden Kommunikation des
Gerichts mit den Parteien, erhält also eine verstärkte
Ausrichtung an einem Dialog unter allen Beteiligten. Die Beachtung
des „prozessualen Urrechts" auf rechtliches Gehör[24] (Art. 103 I GG)
wird damit auf besonders effektive Weise sichergestellt; denn
für ein Übersehen oder Übergehen werden
zusätzliche Hürden geschaffen. Als weiterer Effekt kann
bei den Parteien eine erhöhte Bereitschaft nicht nur zu einer
einvernehmlichen Lösung des Rechtsstreits entstehen, sondern es
kann für den Fall einer streitigen Entscheidung diese auch an
Überzeugungskraft gewinnen. | Abs. 18 | | V. Perspektiven eines IT-gestützten
Zivilprozesses | | | Ganz besondere Vorteile kann dieses Prozessmodell
für die - hoffentlich nahe - Zukunft entfalten; denn es
eröffnet eine interessante, weitere Option, die den EDV-Einsatz
am Richterarbeitsplatz hin zu einem IT-gestützten Zivilprozess
effektuiert:[25] Die
vorgegebene Struktur für das Parteivorbringen kann als Basis
für eine elektronische Zuordnung dienen, die
gewissermaßen „auf Knopfdruck" eine
Gegenüberstellung des Prozessstoffs in der
relationsmäßigen Form eines Aktenauszugs zu generieren
vermag. Denkbar wären etwa Tools, die es Anwälten und
Gericht gleichermaßen ermöglichen, entsprechende
Verknüpfungen herzustellen. Ein derart automatisiert erstellter
Aktenauszug darf selbstverständlich nicht mit der richterlichen
Aufgabe der Sachverhaltsaufklärung und der Rechtsfindung
verwechselt werden, sondern bereitet diese nur vor. Es bleibt
Aufgabe des Richters, das Parteivorbringen auf Schlüssigkeit
und Erheblichkeit und auf etwa erforderliche Beweisangebote zu
kontrollieren, allerdings wird diese Prüfung aufgrund des schon
vorstrukturierten Prozessstoffs deutlich erleichtert. Das oft
mühsame Aufsuchen und „händische" Zuordnen von
Behauptungen und Beweisangeboten bleibt erspart. Es wird freie
Arbeitskraft gewonnen, die sinnvoller und effektiver unmittelbar
für den ersten Schritt der Entscheidungsfindung genutzt werden
kann, also für die Prüfung des Vortrags auf rechtliche
Relevanz und etwaige Beweisbedürftigkeit. Dies ist deutlich
mehr als der bisher vom Gesetzgeber beabsichtigte Ausbau nur des
elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte.[26] Die Reduzierung
auf die Ziele der elektronischen Kommunikation und Speicherung
lässt für den Zivilprozess wichtiges Potenzial, das die
moderne Informationstechnologie eröffnet, für die
richterliche Arbeit ungenutzt. Elektronischer Rechtsverkehr alleine
ist nicht genug, entscheidende Ressourcen liegen brach, wenn es
versäumt wird, diese Kommunikations- und Speichertechnik durch
eine elektronisch gestützte Verfahrensvorbereitung zu
optimieren und direkt für die richterliche Entscheidungsfindung
zugänglich zu machen. | Abs. 19 | | VI. Gegenargumente? | | | Zum Abschluss sei zur Kontrolle die Frage aufgeworfen,
was angesichts dieser gewichtigen Vorteile gegen die vorgeschlagene
Strukturierung des Parteivorbringens sprechen könnte. Aus Sicht
der Anwaltschaft ist sicher eine gewisse Mehrarbeit zu nennen, die
für die disziplinierte Ordnung des eigenen Vorbringens
aufzuwenden ist. Außerdem müsste, damit die
Strukturierungsvorgaben in der Praxis auch tatsächlich
Beachtung finden, deren Nichteinhaltung - allerdings erst nach
Missachtung substantiierter richterlicher Hinweise - empfindlich
sanktioniert werden und nötigenfalls zum Ausschluss
unstrukturierten Vorbringens, also zu dessen Präklusion,
führen. | Abs. 20 | | Diese Nachteile mögen auf den ersten Blick eine
empfindliche Belastung darstellen; bei näherer Betrachtung
zeigt sich allerdings, dass es letztlich nur um die konsequente
Beachtung der Sorgfaltsanforderungen geht, die ohnehin schon bei
anwaltlicher Tätigkeit vertraglich geschuldet sind. Der Anwalt
ist selbstredend zur „Prozessführung lege artis"
verpflichtet; er hat deshalb insbesondere schlüssig und
substantiiert vorzutragen und Beweisangebote zu unterbreiten.[27] Das setzt wiederum
voraus, dass der Anwalt auf der Klägerseite den Sachvortrag auf
Schlüssigkeit prüft, indem er ihn unter
Anspruchsgrundlagen subsumiert, die das Klageziel stützen
können; es muss diese gedankliche Leistung nur noch - mit
deutlich geringerer Mühe - in Schriftform umgesetzt werden.
Gewissermaßen im Gegenzug erhält der Klägervertreter
damit sogar eine zusätzliche Möglichkeit der
Eigenkontrolle, denn er kann sein eigenes Vorbringen konsequent auf
ausreichende Schlüssigkeit überprüfen. Umgekehrt muss
auch der Beklagtenvertreter bei seinem Vortrag zur Verteidigung
gegen das Klägervorbringen auf Schlüssigkeit oder -
präziser - auf Erheblichkeit achten; nur so kann er
überhaupt erkennen, ob er der Klage entgegentreten soll, und
ggf. die Chancen zu einer erfolgreichen Verteidigung optimal nutzen.
Auch hier gilt es also nur, gedankliche Vorarbeit zu Papier zu
bringen, und auch hier ermöglicht ein Zwang zur präzisen
Erwiderung eine Kontrolle des eigenen Vortrags. | Abs. 21 | | Klar gesagt: Von der Anwaltschaft wird im Wesentlichen
nur das gefordert, was den Mandanten ohnehin schon an
sorgfältiger Arbeit geschuldet ist. Es verbleibt ein
vergleichsweise geringer Mehraufwand für präziseren,
disziplinierten Vortrag - und dies wird durch die Vorteile der damit
verbundenen Selbstkontrolle ausreichend entgolten. Was also kann
einem Strukturierungserfordernis vernünftigerweise noch
entgegenstehen? | Abs. 22 | | | |
| | | | | | Fußnoten | |
| | | | | * Prof.
Dr. Reinhard Gaier ist Richter des Bundesverfassungsgerichts. | | | | | | | | | | [1] So
die Zielsetzung des Fachprogramms verfügbar unter
www.djt.de/fileadmin/downloads/70/djt_70_Prozessrecht_140320.pdf | | | | | [2] http://www.djt.de/fileadmin/downloads/70/djt_70_Thesen_140804.pdf | | | | | [3] http://www.djt.de/fileadmin/downloads/70/140919_djt_70_beschluesse_web_rz.pdf | | | | | [4] So
etwa der Beschluss unter 1.): „Bei den Landgerichten
sind obligatorisch für einen Katalog wichtiger
Rechtsgebiete Spezialkammern einzurichten, z.B. für
Bausachen, Arzthaftungssachen, Kapitalanlagenhaftungssachen,
Versicherungsvertragssachen, Softwarevertragssachen
etc." | | | | | [5] So
etwa der Beschluss unter 4.): „Den Ländern wird
die Einführung von Kammern für internationale
Handelssachen mit der Gerichtssprache Englisch
ermöglicht." | | | | | [6] So
etwa unter der Beschluss 17a): „Der
Sachverständigenbeweis muss reformiert werden, um die
Beweisgewinnung zu beschleunigen." | | | | | [7] Angenommen mit 41:38:5 Stimmen. | | | | | [8] Beschluss unter 13.) | | | | | [9] Beschluss unter 15.), angenommen mit 46:30:8 Stimmen | | | | | [10] Interview mit Bundesminister Maas in AnwBl 2015, 1 (65
f.). | | | | | [11] Interview mit Bundesminister Maas in AnwBl 2015, 1
(66). | |
| | | [12] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 413. | | | | | [13] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 411. | | | | | [14] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 412. | | | | | [15] Sattelmacher/Sirp, Bericht, Gutachten und Urteil, 32. Aufl.
(1994), S. 193. | | | | | [16] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 426. | | | | | [17] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 427. | | | | | [18] Schilken, ZPO, 6. Aufl. (2010), Rn. 428, 429. | | | | | [19] So schon Eisner, DRiZ 1955, 285 (286). | | | | | [20] Cohn, ZZP 73 (1960), 324 (335). | | | | | [21] Leonhardt, Die Justizgesetzgebung des Königreichs
Hannover – Zweiter Band: Die bürgerliche
Proceßordnung und deren Nebengesetze, 4. Aufl. (1867),
S. 88. | | | | | [22] Vgl. etwa Lüke, Zivilprozessrecht, 9. Aufl. (2006), Rn.
26 f. | | | | | [23] So bereits Gaier, NJW 2013, 2871 (2874). | | | | | [24] So BVerfGE 55, 1 (6). | | | | | [25] So bereits Gaier, NJW 2013, 2871 (2874). | | | | | [26] Vgl. dazu Gaier NJW 2013, 2871 (2873 f.). | | | | | [27] Schultz in Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht,
2. Aufl. (2014), Haftung Rn. 204. | | | |
| | |
| | | Anmerkung der Redaktion: Die Erstveröffentlichung des vorliegenden Beitrags erfolgte in der ZRP 2015, S. 101 ff.
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| | | | | (online seit:
18.08.2015) | | | | |
| | | | | Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok,
Abs. | | | | |
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