JurPC Web-Dok. 173/2013 - DOI 10.7328/jurpcb20132810168

Uwe Berlit *

Elektronischer Rechtsverkehr - eine Herausforderung für die Justiz **

JurPC Web-Dok. 173/2013, Abs. 1 - 50


I n h a l t s ü b e r s i c h t
1. Bedeutung des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs
2. Handlungsfeld Finanzen
3. Handlungsfeld Technik
4. Handlungsfeld Personal
5. Handlungsfeld Veränderungs“management“
6. Handlungsfeld Mitbestimmung
7. Handlungsfeld Ergonomie
8. Handlungsfeld Prozessrecht
9. Schlussbemerkung

1. Bedeutung des Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs

1.1 Das Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs(1)ist normativ der „Startschuss“ für eine fundamentale Umgestaltung des Modus justizieller Aufgabenerfüllung. Schon heute kann die Justiz ihre Aufgaben ohne substantielle IT-Unterstützung nicht erfüllen. Meine - nicht zwingende (Beispiel Österreich) – Prämisse ist, dass mit dem flächendeckenden elektronischen Rechtsverkehr auch eine weitgehende Elektronifizierung der Akte mitgedacht wird. Dann liegt der qualitativ neue Schritt darin, dass erstmals auch das „Herzstück“ der Justiz, die richterliche Tätigkeit, perspektivisch in weitgehend medienbruchfrei gestaltete Abläufe einbezogen wird und dies in einen nur auf den ersten Blick großzügig bemessenen verbindlichen Zeitrahmen eingepasst ist. JurPC Web-Dok.
173/2013, Abs. 1
1.2 Diese grundlegende Umgestaltung interner Justizabläufe wird im laufenden Betrieb zu bewältigen sein. Dies ist eine Herausforderung, deren Bewältigung nicht garantiert ist. Berührt sind unterschiedliche Handlungsfelder. Einige sind nachfolgend anzusprechen. Abs. 2

2. Handlungsfeld Finanzen

2.1 Bei der „Freude“ über die Verabschiedung des Gesetzes darf nicht aus dem Blick geraten: Der elektronische Rechtsverkehr fordert zunächst einmal erhebliche Investitionen. Er ist ein Modernisierungs-, kein Sparprogramm und wird sich nicht kurz- oder mittelfristig durch Effektivitätsgewinne refinanzieren. Abs. 3
Geboten sind teils wohl beträchtliche Investitionen auf unterschiedlichen Ebenen:
  • in die Vorbereitung und Planung,
  • in bzw. für die Menschen (Heranführung und Schulung),
  • in die Technik (Hardware; Software; Leitungen; Verfügbarkeitsanforderungen und Datensicherung/-heit) und
  • in die Doppelarbeit, die für einen reibungsarmen Übergang erforderlich sein wird.
Abs. 4
Die erforderlichen Haushaltsmittel, die realistisch abzuschätzen Ziel eines BLK-Projekts ist, müssen umgehend in die Haushaltsplanungen vor allem der Länder eingestellt werden und zu einem Zeitpunkt in den Haushalten auch tatsächlich zur Verfügung stehen, in denen die Haushaltsprobleme durch Schuldenbremse, Auslaufen des Länderfinanzausgleichs und des Solidarpaktes sowie einen mittelfristig erwartbaren Zinsanstieg in vielen Ländern exponentiell steigen werden. Abs. 5
2.2 Die Mittelbereitstellung ist alles andere als selbstverständlich. Die Justiz wird in der Konkurrenz um die relativ knapper werdenden öffentlichen Mittel zumindest nicht allein mit ihrer verfassungsgebotenen Aufgabe und ihrer Eigenständigkeit als Staatsgewalt argumentieren können. Die auch sonst strukturell justizfernen Finanzministerien interessiert nur der kurzfristige „return of invest“, der ihnen hilft, die Schuldenbremse einzuhalten, nicht die Qualität justizieller Aufgabenerledigung. Abs. 6
Mit der Vergesetzlichung werden die Investitionen – und damit auch die dafür erforderlichen Mittel – unabweisbar, um eine gesetzeskonforme Aufgabenerledigung zu ermöglichen, und damit weniger kontingent. Die Justiz muss hier die erwartbaren Kosten klar und realistisch beziffern. Der elektronische Rechtsverkehr ist nicht „aus dem Bestand“ zu finanzieren. Abs. 7
Daneben muss Justiz aber auch deutlich machen, dass sie ungeachtet entgegenstehender Gerüchte und häufigerer „Verschonung“ bei linearen Haushaltskürzungen insgesamt ihre fiskalischen Hausaufgaben erledigt, ihre internen Rationalisierungsressourcen weitestgehend ausgeschöpft und aus eigenen Mitteln wenig beizusteuern hat, um diesen Umstellungsprozess zu bewältigen. Abs. 8

3. Handlungsfeld Technik

3.1 Die für den elektronischen Rechtsverkehr erforderliche Technik steht prinzipiell zur Verfügung. Sie ist aber nur in einzelnen Teilbereichen und nur in Ausnahmebereichen unter Realbedingungen mit hohem Kommunikationsaufkommen erprobt. Ein Rückblick auf die inzwischen zehnjährige Entwicklungsgeschichte der OSCI-gestützten Kommunikation mittels EGVP mit all ihren Höhen und Tiefen zeigt, wie dornenreich der Weg von der technischen Machbarkeit zum hinreichend massentauglichen, belastbaren System sein kann. Elektronische Kommunikation mit dem in der Justiz erwartbaren, ohnehin nur schwer abschätzbaren Mengenaufkommen ist für öffentliche Institutionen ebenso ein Novum wie für die Anwaltschaft. Abs. 9
3.2 Der elektronische Rechtsverkehr braucht eine ergonomisch akzeptable, funktionsgerechte und den Arbeitsschutzanforderungen entsprechende Ausstattung mit Hard- und Software am Arbeitsplatz. Die Systeme müssen deutlich höher verfügbar und redundant angelegt sein. Das technisch gesicherte Niveau von Datensicherheit, Datensicherung und Datenschutz müssen den Wegfall der Papierakte vertretbar erscheinen lassen. Abs. 10
3.3 Klärungsbedürftig ist, ob die derzeit eingesetzten Systeme auch ein sprunghaft steigendes Kommunikationsaufkommen mit ansprechender Performance verkraften. Überprüfungsbedürftig ist auch, ob die vorhandenen Datennetze innerhalb der einzelnen Justizstandorte, aber auch die Datenleitungen zu den Justizstandorten einen exponentiellen Anstieg des Transfervolumens verkraften. Entsprechende Probleme stellen sich für Anwaltschaft und sonstige professionelle Justizkunden. Vorsorge sollte hier auch für die Datenmengen digitaler Videokonferenzen getroffen werden, die mittelfristig eine mögliche Reaktion des demographiebedingten Rückzugs aus der Fläche bilden werden. Dem in der Endausbauphase gigantischen Dateitransfervolumen korrespondieren Datenspeicherungs-, -sicherungs- und –archivierungsvolumina, die zwar nicht das Vorstellbare, wohl aber das in der Justiz Erprobte qualitativ übersteigen. Abs. 11
3.4 Herzstück eines kontradiktorischen gerichtlichen Verfahrens ist immer noch die mündliche Verhandlung. Bei elektronischer Aktenführung ist sicherzustellen, dass die elektronische Akte dem Gericht im Sitzungssaal zur Verfügung steht und auch die Verfahrensbeteiligten Zugriff auf ihre jeweiligen elektronischen Handakten haben. Die Sitzungssäle/-zimmer werden mithin technisch „aufzurüsten“ sein. Abs. 12
Soweit Verfahrensbeteiligte ihre Akten nicht auf einer „mobilen Festplatte“, sondern „in der Cloud“ gespeichert haben, bedarf der Klärung, bis zu welchem Maße Gerichte den Online-Zugriff technisch zu garantieren oder doch zu unterstützen haben und welche prozessrechtlichen Konsequenzen hier Technikversagen hat. Abs. 13
3.5 Eine genuin technische Dimension haben auch die justizinternen Standards für die Kommunikation. Papier ist geduldig, Technik nur begrenzt. Neben den Nachrichtenformaten besteht erheblicher Standardisierungsbedarf für den Austausch von Akten, Vorgängen und Dokumenten insb. in den öffentlich-rechtlichen Fachgerichtsbarkeiten, aber auch in der Strafgerichtsbarkeit (an der Schnittstelle zu den Staatsanwaltschaften). Abs. 14
Der IT-Planungsrat hat für die allgemeine Verwaltung im Juni 2012 ein entsprechendes Vorhaben in seine Standardisierungsagenda aufgenommen; Ziel einer Arbeitsgruppe ist es, bis 2015 einen Standardisierungsvorschlag für den IT-Planungsrat zu erarbeiten. Die Justiz tut gut daran, hier ihre Interessen einzubringen und daneben die eigenen Standardisierungsbemühungen zügig voranzutreiben, um den Erfassungs- und Nachbearbeitungsaufwand bei elektronischer Kommunikation so gering wie möglich zu halten. Abs. 15
3.6 Für die Vorgangsbearbeitungs- und Dokumentenmanagementsysteme bzw. deren Konfiguration ist bei Behörden- und Gerichtsakten sicherzustellen, dass sie allen Anforderungen an eine rechtsstaatliche Akteneinführung entsprechen und bei Aktenübersendung und -einsicht auch die im System gespeicherten, der Aktensicht unterliegenden „aktenrelevanten“ Aktenbearbeitungsinformationen sichtbar und transparent aufbereitet werden. Erfahrungen mit den Systemen selbst großer Bundesbehörden weisen hier auf erheblichen Nachholbedarf. Abs. 16
3.7 Justiz als Bestandteil neuer Prozessketten der Informationsgesellschaft muss in der Kommunikation die (technischen) Schnittstellen zu Fachanwendungen Dritter (Anwalt- und Notarschaft; Behörden) mitdenken. Über die externe Kommunikation hinaus ist vor allem die weitestgehend automatisierte interne Weitervereinbarung in den Fokus zu stellen, um Mehrfacherfassungen zu vermeiden und die Arbeitskraft auf die intellektuelle Durchdringung/Verarbeitung konzentrieren zu können. Neben den technischen Schnittstellen für den zuverlässigen Datentransfer umfasst dies vor allem die Standards und Wertelisten, die einen system- und ebenenübergreifenden Austausch von Schriftgutobjekten auf Dokumentbasis gewährleisten. Abs. 17

4. Handlungsfeld Personal

4.1 Die zunehmende Elektronifizierung der Justiz wird die Technikabhängigkeit der justiziellen Aufgabenerledigung weiter (spürbar) steigern. Bereits für eine weitgehende Umstellung der externen Kommunikation auf eine elektronische Kommunikation ist eine stabile, verlässliche Technik erforderlich und hochverfügbar bereit zu halten, die auch zuverlässig betrieben werden muss. Hierfür ist auch qualifiziertes Personal erforderlich. Die Frage nach der Datenhaltung der Justiz ist nicht nur eine Frage institutioneller Gewaltentrennung unter Beachtung richterlicher Unabhängigkeit. Abs. 18
Sicherzustellen ist auch eine funktionsgerechte Verfügbarkeit mit angemessenen Reaktionszeiten bei etwaigen Störungen. Mit einem Übergang in eine (weitgehend) elektronische Aktenführung ist evident, dass eine gesicherte Hochverfügbarkeit mit verlässlicher Datensicherung für effektive Rechtsschutzgewähr unerlässlich ist. Vorzuhalten ist eine entsprechende Organisation der Technikbereitstellung, die jedenfalls nicht ohne steuernden bzw. kontrollierenden Einfluss durch die Justizverwaltung und VertreterInnen der Richterschaft auskommt. Abs. 19
4.2 Qualifiziertes Fachpersonal, das neben seiner Technikkompetenz auch die spezifischen Anforderungen der Justiz an Arbeitsabläufe und Organisation zumindest verstehen kann, ist hierfür ebenso erforderlich wie für die fachkundige „Übersetzung“ der Justizanforderungen für die „Techniker“. Auch dies setzt der Zentralisierung der IT-Infrastruktur gewisse Grenzen. Die Justiz muss darauf achten, dass sie nicht als ein IT-Anwendungsbereich unter vielen in allgemeinen E-Governmentstrukturen verschwindet, ohne auf die Skalen- und Sicherheitseffekte von Zentralisierung verzichten zu können. Hier verbleibt auch nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur IT-Architektur in Hessen hinreichend Chance zu kontroversen Debatten, denen ein problemlösungsorientierter Verlauf zu wünschen ist. Abs. 20
4.3 Neben die organisatorische tritt hier eine personelle Dimension. Die Konkurrenz um entsprechend qualifiziertes Personal wird innerhalb des öffentlichen Sektors und zwischen diesem und der „freien Wirtschaft“ in den nächsten Jahrzehnten deutlich zunehmen. Justiz muss hierauf in ihren Personalentwicklungs- und Personalrekrutierungskonzepten vorbereitet sein. Namentlich für die Übersetzungsarbeit wird immer auch ein gewisser Anteil von Personen mit Doppelqualifikation zur Verfügung stehen müssen, die – auf den verschiedenen Funktionsebenen – Innenleben und Abläufe der Justiz genau kennen und zugleich über zumindest so viel Technikkompetenz verfügen, dass sie „auf Augenhöhe“ mit den für die Technik Verantwortlichen agieren können. Dies hat Konsequenzen auch für die Stellenplanung sowie die Fortbildungsstrategien. Abs. 21
4.4 Informationstechnologie ist nicht Selbstzweck; sie hat dienende Funktion. Der effektive, zugleich aber verantwortliche Umgang mit ihr will gelernt sein. Zu unterstützen sind daher Überlegungen, in die Ausbildung des Justizpersonals auf allen Ebenen – auch bei der universitären Juristenausbildung – systematisch Module einzubauen, welche die erforderliche „E-Justice-Kompetenz“ vermitteln. Abs. 22

5. Handlungsfeld Veränderungs“management“

5.1 Justiz befindet sich in steter Bewegung und inkrementaler Veränderung. Die Umstellung auf elektronische Kommunikation und Bearbeitung sprengt nach sachlicher Reichweite und Betroffenenkreis diesen Rahmen organischer Organisationsentwicklung. Erforderlich wird eine systematische Vorbereitung, Durchführung und Nachbegleitung der Veränderungen, die neben der fachlich-instrumentellen auch die psychologischen Dimensionen in den Blick nimmt. Eine solche Zusammenfassung aller Aufgaben, Maßnahmen und Tätigkeiten, die umfassende, bereichsübergreifende und inhaltlich weitreichende Veränderungen in einer Organisation zur Umsetzung neuer Strategien, Strukturen, Systeme, Prozesse oder Verhaltensweisen bewirken sollen, nennt man „Veränderungs-„ bzw. – als Anglizimus - „Changemanagement“. Abs. 23
Terminologisch sollte berücksichtigt werden, dass Justiz und ihre Angehörige nicht „gemanagt“ werden mögen. Der Sache nach wird aber genau dies passieren müssen, auch um die zahlreichen Befürchtungen und – mehr oder minder offene – Widerstände zu bewältigen und das „Obstruktionspotential“ zu kanalisieren, das sich aus dem arbeitsteiligen Zusammenwirken in der Justiz und der teils überzogen weiten Berufung auf die richterliche Unabhängigkeit ergibt. Die Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs ist vor allem für die Gerichtspräsidenten bzw. -direktoren eine schwierige Führungsaufgabe, für deren umsetzungsorientierte Wahrnehmung geworben werden muss. Abs. 24
5.2 Justiz ist von Gericht zu Gericht immer ein wenig anders – und immer etwas Besonderes. Dies ist kein Grund, an jedem Gericht alle bei der Einführung des elektronischen Rechtsverkehrs denkbaren Fehler auch selbst machen zu wollen. Zentrale Einführungsstrategien und -handbücher sind unverzichtbar. Sie müssen aber offen sein für örtliche Anpassungen. Abs. 25
5.3 Der Nutzen der Digitalisierung ist nicht für alle Beteiligten unmittelbar einsichtig und nach Ob und Umfang abhängig von der Ausgestaltung. Dies stellt hohe Anforderungen an die Modernisierungs-, Lern- und Mitwirkungsbereitschaft der durchaus selbstbewussten und „beschwerdemächtigen“ Akteure, die nicht als selbstverständlich unterstellt werden kann. Sie herzustellen ist die zentrale Herausforderung des Motivations- und Akzeptanzförderungsmanagements der Umsetzungsverantwortlichen. Der Hinweis auf den Willen des Gesetzgebers ist angesichts des Selbstbewusstseins und des „Problematisierungspotentials“, das nicht zuletzt die richterliche Verfahrensherrschaft birgt, auch für die gesetzesgebundene Richterschaft keine hinreichende Bedingung für konstruktive Mitwirkung. Abs. 26

6. Handlungsfeld Mitbestimmung

6.1 Der elektronische Rechtsverkehr kann nur mit, nicht gegen die Mehrheit der Justizangehörigen ein Erfolg werden. Das Gesetz ist ein spezieller Motivationsfaktor; es garantiert aber weder Erfolg noch Akzeptanz. Abs. 27
Ein Baustein hierfür ist, die in der Justiz Beschäftigten sachgerecht und ehrlich in den dafür vorgesehenen Mitwirkungsverfahren zu beteiligen. Zur Ehrlichkeit gehört die Klarstellung, dass das Ob der Elektronifizierung gesetzlich vorgegeben und der Mitbestimmung daher „nur“ deren Ausgestaltung einschließlich der flankierenden Maßnahmen bei der Einführung offen steht. Diese Asymmetrie der Beteiligung schließt auch Beteiligungsformen und -forderungen aus, welche die Grundentscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers für eine schrittweise Elektronifizierung konterkarieren. Abs. 28
6.2 In der Ausgestaltung bestehen aber auch die größten Anpassungs- und Regelungsprobleme. Sie betreffen alle Systemebenen – von der Technikausstattung über Datenschutz und –sicherheit bis hin zu den Schulungs- und Umsetzungskonzepten. In diesem Bereich sind auch die Vorkehrungen zu konkretisieren, die eine Beeinträchtigung der richterlichen Unabhängigkeit durch den Betrieb wirksam ausschließen. Abs. 29
Bei deren Bewältigung sind Mitbestimmung und prozessbegleitende Beteiligung der Beschäftigtenvertretungen und ihrer Organisationen gefordert. Die geltenden Mitbestimmungsregelungen sind dabei für die – notwendig und sinnvoll auch kritische – Begleitung grundlegender Systemveränderungen mit mehrjährigem Planungs- und Umsetzungsvorlauf nur begrenzt zugeschnitten. Dies wird sich kurzfristig wohl nicht ändern lassen. Geändert werden kann indes der regional und nach Gerichtsbarkeiten wohl heterogene Wissensstand der Beschäftigtenorganisationen und der jeweiligen Richter- und Personalräte vor Ort ebenso wie über die wohl divergierenden Vorstellungen der Justizverwaltungen über Zeitpunkt und Ausgestaltung von Beteiligung. Abs. 30
6.3 Mit den Richtervereinigungen sowie den Organisationen der sonst in der Justiz Beschäftigten ist in einer ersten Stufe eine Bestandsaufnahme zu den vorhandenen Informationen und – vor allem – den Vorstellungen über eine sachgerechte, rechtzeitige und umfassende Beteiligung zu machen. Der EDV-Gerichtstag bzw. die Europäische EDV-Akademie des Rechts (EEAR) mag für entsprechende Problemaufbereitungen und Perspektivenklärungen ein hinreichend „neutrales Forum“ bilden bzw. schaffen, das primär dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch dient, und auf eine frühzeitige „Bearbeitung“ auch dieses Feldes drängt. Abs. 31
6.4 Auch bei der Mitbestimmung muss nicht jedes Land und jedes Gericht das Rad neu erfinden. In einer zweiten Stufe ist zu erwägen, mit den Organisationen der Beteiligten für die konkrete Umsetzung der Beteiligungs- und Mitbestimmungsschritte „Arbeitshilfen“ wie z.B. Problem-„Checklisten“, Lösungsansätze (mit Alternativen) oder Mustervereinbarungen zu erarbeiten, die nach Maßgabe der im Ländervergleich im Detail unterschiedlichen Beteiligungsregelungen die Bewältigung der Mitbestimmungsprobleme unterstützen und durch Entlastung von Standardproblemen die Chance eröffnen, sich auf die spezifischen Umsetzungsprobleme vor Ort zu konzentrieren. Abs. 32
In diesem sensiblen Bereich, der überdies durch unterschiedliche Mitbestimmungs“kulturen“ oder gar durch erfahrungsgestützte Kommunikationsverkrustungen geprägt sein kann, kann es nicht um Standardbildung oder gar Vorgaben, sondern nur um Entlastung durch problemlösungsorientierte Angebote gehen. Abs. 33

7. Handlungsfeld Ergonomie

7.1 Ein weiterer Schlüssel zur Akzeptanz ist die Ergonomie des elektronischen Rechtsverkehrs. Die elektronischen Bearbeitungsmöglichkeiten müssen nicht nur objektiv akzeptabel sein und die tägliche Dezernatsarbeit ebenso unterstützen wie die intellektuelle Erfassung und Durchdringung der Akte. Sie müssen vor allem bei der überwiegend noch auf papiergebundene Bearbeitung orientierten Richterschaft eine Chance auf hinreichende Akzeptanz haben. Die verschiedenen Ansätze für eine ergonomisch verbesserte, gar optimierte Bearbeitungsweise sind so schnell wie möglich „in der Fläche“ zu erproben. Abs. 34
7.2 Die Justizverwaltungen stehen dabei vor der schwierigen Aufgabe, unter schwierigen Budgetbedingungen und sich rasant entwickelnder Technik das ergonomische Optimum herauszufinden und dann auch bereitzustellen. Das ergonomische Maximum wird ohnehin nicht bereitgestellt werden können. In der Umstellungsphase werden die Programme, die ohnehin von zu nicht unerheblichen Teilen ablehnend bis skeptisch eingestellten Richterinnen und Richter anzuwenden sein werden, noch nicht vollständig ausgereift sein (können). Abs. 35
Es ist – finanziell und organisatorisch – Vorsorge zu treffen, dass aus dem erwartbaren Strom der Kritik an Hard- und – vor allem – Softwareausstattung die berechtigten Problembereiche transparent herausgefiltert, aufgegriffen und in einem klar definierten Verfahren hinreichend zeitnah abgearbeitet werden können. Abs. 36
7.3 Eine medienbruchfreie elektronische Bearbeitung erfordert eine Umstellung der gesamten Arbeitsweise, bei der sich für Teilschritte die Arbeit mit der Papierakte – bis auf Weiteres oder gar dauerhaft – als ergonomisch überlegen erweisen mag und bei der partiell auch mit der elektronischen Bearbeitung Mehraufwand (für die Richterschaft oder den Servicebereich) ergeben wird. Geboten ist eine Gesamtbetrachtung, bei der Mehrbelastungen in Teilbereichen mit Entlastungen bei anderen Tätigkeiten oder an anderer Stelle saldiert werden. Dies ist offen als Maßstab für die Systemergonomie zu kommunizieren, um überzogenen Erwartungen und unnötiger Kritik entgegenzuwirken. Abs. 37

8. Handlungsfeld Prozessrecht

8.1 Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz. Das ERV-Fördergesetz zeichnet die Zeitstufen auf dem Weg hin zu einer elektronischen Justiz vor. Insoweit setzt es die prozessrechtlichen Regelungen fort, die in der Vergangenheit den Weg für den elektronischen Rechtsverkehr geebnet haben. Es schöpft aber selbst den schon heute erkennbaren Regelungsbedarf nicht aus, der bereits begleitend zum Gesetzgebungsverfahren geltend gemacht worden ist – nicht nur in Bezug auf die Barrierefreiheit, die das Gesamtprojekt ungewollt fast gefährdet hätte. Abs. 38
8.2. Einige Regelungskomplexe seien benannt. Abs. 39
Das ERV-Fördergesetz regelt die stufenweise steigende Verbindlichkeit des elektronischen Zugangs zu den Gerichten, aber nicht den „elektronischen Rückverkehr“. Rechtspolitisch ist er vorausgesetzt und auch sachlich geboten. Aus Sach-, aber auch aus Akzeptanzgründen ist das Prinzip des gegenseitigen medien- und strukturgleichen Austausches, sind also Übermittlungspflichten auch der Gerichte ausdrücklich festzuschreiben. Dies mag sich als rein symbolisch erweisen. Jedenfalls schafft es für die externen Kommunikationspartner der Justiz Planungssicherheit. Abs. 40
Die Interoperabilität der verschiedenen sicheren Übertragungswege ist mittelfristig als gesetzliche Einsatzbedingung vorzuschreiben, um Gerichten, Behörden und Anwaltschaft Wahlfreiheit und Investitionssicherheit zu gewährleisten. Die Nutzer auf allen Seiten der Kommunikationsketten sollen nicht parallel EGVP, DeMail und etwaige weitere sichere Übertragungswege vorhalten/betreuen müssen. Technisch sind interoperabilitätssichernde Gateways zu entwickeln/einzuführen. Technisch realisierte Interoperabilität mit den vorhandenen Zugangswegen ist rechtlich als Zulassungsvoraussetzung für weitere sichere Übertragungswege vorzuschreiben. Abs. 41
Für die Einführung einer führenden elektronischen Gerichtsakte ist ein verbindlicher Zeitrahmen vorzugeben; durch Rahmenvorgaben ist ein strukturierter Aktenaustausch sicherzustellen. Abs. 42
Das Risiko von Fehlern und Ausfällen bei elektronischer Kommunikation ist sachgerechter zu verteilen und – zumindest für die Dauer mehrjähriger Übergangsfristen nach Einführung – nicht allein dem weitgehend unveränderten Wiedereinsetzungsrecht zu überantworten, dessen technikkompetente Handhabung nicht zu gewährleisten ist. Abs. 43
Der optionale Austausch von Informationen in maschinenlesbarer Form schöpft nicht den potentiellen Nutzen elektronischer Formulare aus, den Aufwand und die Fehlerträchtigkeit von Übertragungen und Mehrfacherfassungen in standardisierten, strukturierbaren Teilkommunikationsprozessen zu mindern; klarzustellen ist zudem, dass es bei elektronischen Formularen auf die strukturierte, automatisiert weiterverarbeitbare Information, nicht die optische Übereinstimmung ankommt. Abs. 44
Die Vereinfachungen der Formwirksamkeit prozessrechtlicher Erklärungen sind auf die darin enthaltenen materiell-rechtlichen Willenserklärungen (z.B. neuerliche Kündigung) zu erstrecken. Abs. 45
8.3 Weitere Regelungsbedarfe werden sich aus zwei Gründen erst im Rahmen der Umsetzung erweisen. Abs. 46
a) Das geltende Prozessrecht ist implizit auf Papier als Medium der führenden Akte optimiert. Bislang ist keine systematische „Durchforstung“ des Prozessrechts dahin erfolgt, ob bei elektronischer Bearbeitungsweise die prozessualen Schutz- und Regelungszwecke bei Verzicht auf „liebgewonnene Gewohnheiten“ gleichwertig oder besser erreicht werden können. Abs. 47
b) Bei der Umstellung von der papiergebundenen zur digitalen Arbeitsweise werden sich im Detail neue Regulierungs- oder Klarstellungsbedarfe gegeben, bei denen die erforderliche Rechtssicherheit schnell und allgemein verbindlich nur durch Normtextänderung zu schaffen sein wird. Angesicht der Vorlaufzeiten bei organisatorischen bzw. technischen Veränderungen sowie der ohnehin akzeptanzmindernden Verunsicherung bei Umstellung „eingespielter Abläufe“ kann bei auftauchenden Zweifelsfragen nicht durchweg auf die Klärung durch höchstrichterliche Rechtsprechung verwiesen werden. Sie ist bei aller Verfahrensbeschleunigung auf diesem Wege nur um den Preis längerer Phasen der Rechtsunsicherheit zu erlangen. Hier ist auch an die Ermächtigung zu rechtsförmiger, untergesetzlicher Klarstellung von Auslegungsfragen oder eine relative „Abschirmung“ gegenüber prozessrechtlich strittiger Beanstandung durch Systemzertifizierung zu denken, z.B. bzgl. der Frage, ob das Gebot der „bildlichen Übereinstimmung“ beim – ersetzenden oder lediglich transformierenden – Scannen auch zum Einscannen offenkundig nicht sinntragender Farbinformationen (z.B. Farbelement im Anwalts- oder Behördenlogo) zwingt. Abs. 48

9. Schlussbemerkung

Die Elektronifizierung der Justiz ist kein Selbstverwirklichungsprojekt technikaffiner Justizangehöriger und -politiker. Sie reagiert auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, in der die Justiz als Trägerin einer sehr spezifischen, verfassungsgebotenen Dienstleistung ihre Aufgaben zu erledigen hat. In Bezug auf die äußere Gestaltung der Rechtsschutzgewähr und der hierfür erforderlichen Kommunikationsprozesse ist Justiz Bestandteil neuer Prozessketten der Informationsgesellschaft – und muss dies als bewusst wahrzunehmende Gestaltungsaufgabe auch be- und aufgreifen. Abs. 49
Der Erfolg des Gesetzes ist nicht garantiert. Die sach- und fristgerechte Umsetzung des eJustice-Gesetzes ist eine Herausforderung für alle in der und für die Justiz Tätigen. Die Herausforderung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgebers bedeutet deren Verantwortung für das Gelingen – auch für diejenigen, die der Elektronifizierung (in) der Justiz bislang grundsätzlich kritisch oder bestenfalls indifferent gegenüberstehen. Das Gesetz errichtet kein Kritikverbot. Es mag dienstrechtlich aber ein Mindestmaß an konstruktiver Mitwirkung nahe legen. Erfolgreich sein kann aber nur eine Umsetzung, die auf die Kraft der konstruktiven Mitwirkung oder Akzeptanz setzt. Die Justiz ist im institutionellen Eigeninteresse dazu „verurteilt“, die in dem Prozess der Realisierung des Gesetzes angelegten Transformationschancen auch zu nutzen, um das Ziel der Justiz, qualitativ hochwertigen, effektiven Rechtsschutz zu garantieren, auch unter den veränderten Rahmenbedingungen der Informationsgesellschaft optimal zu verwirklichen und dabei die „Mehrwerte“ moderner Technik auszuschöpfen.
JurPC Web-Dok.
173/2013, Abs. 50

F u ß n o t e n
**Kurzvortrag auf dem Arbeitskreis „Wie wird aus dem eJustice-Gesetz Realität?“ des 22. EDV-Gerichtstages am 26. September 2013 in Saarbrücken.
(1)Dem Gesetzentwurf der Bundesregierung (BT-Drs. 17/12634) haben in der Fassung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (BT-Drs. 17/13948) Bundestag und Bundesrat zugestimmt; die Verkündung im BGBl. stand im Zeitpunkt des EDV-Gerichtstages noch aus.
*Prof. Dr. Uwe Berlit ist Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht und Richter am Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen. Er gehört dem Vorstand des Deutschen EDV-Gerichtstags an.
[ online seit: 08.10.2013 ]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Berlit, Uwe, Elektronischer Rechtsverkehr - eine Herausforderung für die Justiz - JurPC-Web-Dok. 0173/2013