JurPC Web-Dok. 278/2004 - DOI 10.7328/jurpcb/20041911221

Ellen Euler*

"Eine nationale Kulturkatastrophe...."

JurPC Web-Dok. 278/2004, Abs. 1 - 14


Zunehmend wird im Internet und in den Medien die Dauerhaftigkeit digitaler Inhalte thematisiert. JurPC möchte die Diskussion nicht nur begleiten, sondern mit dem nachfolgend veröffentlichten Beitrag, der den Erhalt des kulturellen Erbes in digitaler Form behandelt, auch weiter anstoßen und hofft auf weitere Beitragszusendungen zu diesem aktuellen Thema.
Eine nationale Kulturkatastrophe und ein schwerer Verlust für das Weltkulturgedächtnis. Das war der Kommentar der Kulturstaatsministerin Christina Weiss zum Großbrand in der weltberühmten Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar vom 02.09.2004. Das Feuer hat rund 30.000, teils unersetzliche historische Bücher vernichtet und bedeutet in der Tat einen schweren Verlust für das deutsche Kulturerbe. Zu Gunsten des Wiederaufbaus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek und zur Restaurierung der Bücher von der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen haben mehrere Spenden-, Hilfs- und Benefizaktionen unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Köhler stattgefunden. Im Internet findet sich eine eigene Domain namens "Anna Amalia Bibliothek", auf der die schlimmen Bilder des Brandes gezeigt werden. (1)JurPC Web-Dok.
278/2004, Abs. 1
Wieder einmal hat sich gezeigt: Das Kulturerbe der Menschheit ist verletzlich. Die Kultur, die durch das Buch und die Archivierung von Büchern in Bibliotheken, ein universales Langzeitgedächtnis bekommen hat, ist nicht gegen alle Unglücke gefeit. Brände, Hochwasser und andere Umweltkatastrophen vernichten, was in Bibliotheken teilweise über Jahrhunderte an Informationen für künftige Generationen gesammelt wurde, in wenigen Stunden. Nicht immer geht der Informationsverlust so dramatisch von Statten, wie im Fall der Anna Amalia Bibliothek, oder wie im Jahre minus 47 als in Ägypten die Alexandrina in Flammen aufging, oder 1988 die von Leningrad. Wenn dem so wäre, stünde das Thema "Erhalt des kulturellen Gedächtnis" auf der Prioritätenliste weiter oben. Er ist deswegen so wichtig, weil das Selbstverständnis zukünftiger Generationen auf ihm aufbaut. Das kulturelle Gedächtnis bezeichnet, was einer kulturellen, politischen oder ethnischen Gemeinschaft, unabhängig von ihren einzelnen Mitgliedern wichtig ist.(2)Abs. 2
Wenig spektakulär, aber mit viel weiter reichenden Folgen und dem Verlust viel größerer Mengen an Information, vollzieht sich ein von der Gesellschaft kaum registrierter Schwellbrand: Der Verlust des digitalen kulturellen Erbes. Abs. 3
Im Informationszeitalter ist neben die Bibliotheken und Archive,(3) als analoge Informationsspeicher, das Internet, als digitaler Informationsspeicher getreten. Das Internet ist anerkanntermaßen ein nicht unbedeutender Teil des kulturellen Gedächtnisses.(4) Allerdings taugt es anders als Bibliotheken nicht als Langzeitgedächtnis. Das Wiedergabemedium der digitalen Information schlechthin leidet an Gedächtnisschwund. Täglich verschwinden hunderte von Seiten und Verbindungshinweise laufen ins Leere, der Nutzer, der sie anklickt erhält dann nur noch die Meldung: "Error 404 - file not found". Forscher von der University of Nebraska in Lincoln (USA) haben herausgefunden, dass die Maschenstruktur des Netzes eine Halbwertszeit von nur 55 Monaten hat. Innerhalb dieser Frist wird die Hälfte der Querverweise unbrauchbar. Im Durchschnitt ist eine Internetseite 75 Tage erreichbar. Während sich mittelalterliche Dokumente auf Pergament nachweislich über tausend Jahre hinweg und länger erhalten haben, haben digitale Informationsträger lediglich eine Lebenserwartung von maximal Jahrzehnten, meist nur von Jahren. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Je neuer das Medium, desto kürzer seine Lebenserwartung.(5)Abs. 4
Die Menschheit ist im digitalen Zeitalter im Begriff, ihre historische Dimension zu verlieren.(6) Die Hauptsäule der Kultur gerät damit ins Wanken. Abs. 5
Die Langzeitarchivierung digitaler Inhalte ist ein international viel beachtetes und diskutiertes Problem, welches noch keiner Lösung zugeführt werden konnte.(7) Staatliche und nichtstaatliche Initiativen arbeiten fieberhaft daran. Beispielhaft seien an dieser Stelle nationale Programme wie das NDIIPP (National Digital Information Infrastructure and Preservation Program) der Library of Congress aus den USA, welches von der Regierung mit 100 Millionen US Dollar unterstützt wird,(8) das Programm der National Library of Australia^(9) sowie das Programm PANDORA (Preserving and Accessing Networked Documentary Resources of Australia)(10) genannt oder internationale Programme wie das der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organiszation) zur Erhaltung und Konservierung des digitalen Erbes, im Rahmen dessen die 32. UNESCO-Generalkonferenz im Herbst 2003 die "Charta zum Erhalt des digitalen Erbes" verabschiedete,(11) oder das Programm InterPARES (International Research on Permanent Authentic Records in Elextronic Systems)(12) sowie das Programm ERPANET (Electronic Resource Preservation and Access Network).(13)Abs. 6
Bei den genannten Projekten geht es um die Archivierung und Erhaltung von ausschließlich in digitaler Form vorliegenden Informationen. Ziel ist nicht die Digitalisierung von analogen Informationen. Es ist ja gerade fraglich, ob digitale Informationen sich sicherer in die Zukunft retten lassen, als analoge, oder ob nicht vielmehr gerade die digitale Form ihre Flüchtigkeit ausmacht. Wie gesagt: Je neuer das Medium, desto kürzer die Lebensdauer. Initiativen, die sich mit der Digitalisierung analoger Information befassen, tun dies nicht vordergründig aus Sorge um den Erhalt (des kulturellen Erbes), sondern um einer Vielzahl von Nutzern den Zugriff auf vorhandenes Wissen durch Nutzung neuer Technologien zu erleichtern.(14) Sicher gibt es auch Fälle, in denen die auf einem veralteten Medium, wie zum Beispiel verrottendem Papier vorhandene Information, digitalisiert wird, um sie zu erhalten. Das primäre Ziel der "digitalen Bibliothek" ist aber die Distribution der Information,(15) nicht der hier problematisierte Erhalt des kulturellen Erbes in rein digitaler Form. Abs. 7
Das Engagement der genannten Initiativen ist so unterschiedlich groß, wie es das Problembewusstsein der Gesellschaft im Hinblick auf den Verlust des digitalen kulturellen Erbes ist. In Deutschland läuft seit dem Sommer 2003 das mit 800000 € geförderte Projekt nestor, dessen Ziel der Aufbau eines Kompetenznetzwerks zur Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Quellen für Deutschland in einer dauerhaften Organisationsform ist.(16) Zu den grundlegenden Aufgaben gehören neben der Erarbeitung von Kriterien für vertrauenswürdige digitale Archive, Zertifizierungsverfahren für Archivserver, Auswahlverfahren für die Archivierung digitaler Quellen, Grundsätze für die Langzeitarchivierung sowie die Einbindung der Museen und Archive. Zugleich ist es ein Forum, in welchem sich über Standards und die nachhaltige Übernahme von Daueraufgaben verständigt wird.(17) Seit Sommer diesen Jahres läuft außerdem das mit über 4 Millionen € geförderte Projekt KOPAL, dessen Ziel die Implementierung und Weiterentwicklung eines Archivsystem (DIAS der Firma IBM) ist.(18)Abs. 8
Es ist zu hoffen, dass die geschilderten nationalen und internationalen Bemühungen erfolgreich sein werden. Wichtig ist ein Problembewusstsein bei der Bevölkerung hervorzurufen. Neben der regelmäßigen Publikation von aktuellen Ergebnissen sollte der Bürger durch Kampagnen informiert werden und sich bestenfalls an der Diskussion darüber, wie die vielen im Zusammenhang mit der Langzeitarchivierung digitaler Informationen sich auftuenden Probleme zu lösen sind, beteiligen. Artikel 4 der "Charta zum Erhalt des digitalen Erbes" der UNESCO lautet:

        Notwendigkeit des Handelns

Abs. 9
So lange die akute Bedrohung nicht angegangen wird, wird der Verlust des digitalen Erbes schnell und unumkehrbar voranschreiten. Mitgliedsstaaten werden von der Unterstützung rechtlicher, ökonomischer und technischer Maßnahmen zum Schutz des Erbes profitieren. Die Steigerung der Aufmerksamkeit und der Fürsprache sind dringend. Politische Entscheidungsträger müssen sowohl auf das Potenzial der digitalen Medien als auch auf die Durchführbarkeit ihrer Erhaltung aufmerksam gemacht und die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert werden.(19)Abs. 10
Fragen wie: "Wer finanziert das Ganze?", "Sollte es eine digitale Zwangsabgabe geben?", "Wer entscheidet darüber, was für die Zukunft aufbewahrt werden soll?", " Anhand welcher Kriterien?", "Mit welcher Kompetenz", "Wie ist das digitale Langzeitarchiv zu organisieren, zentral oder föderalistisch?", lassen sich unterschiedlich beantworten. Weil das Ganze zudem eine Menge Geld verschlingt, sollte das Volk hinter der Lösung, für die man sich entscheidet, stehen. Die Stadt Karlsruhe in Baden-Württemberg, die sich mit dem Motto "Mit Recht" zur Kulturhauptstadt 2010 bewirbt, veranstaltet in diesem Rahmen ein Symposium: "Das kulturelle Gedächtnis und sein Beitrag zur Identität der Stadt", auf dem auch die geschilderte Problematik diskutiert wird und eine Reihe lokaler Projekte vorgestellt werden, welche sich mit dem Erhalt des digitalen Kulturerbes beschäftigen.(20) Wünschenswert wären noch viel mehr vergleichbare Initiativen.(21)Abs. 11
Was auch immer die Zukunft bringen mag, eins steht schon jetzt fest: das hehre Ziel, das Alexander der Große mit der Alexandrina verwirklichen wollte "alles Wissen einschließen, das der menschliche Geist jemals hervorgebracht hat, in jeder verfügbaren Form, aus verschiedenen Kulturen und in verschiedenen Sprachen", wird auch im digitalen Zeitalter nicht gelingen können. Die Datenmengen sind einfach zu groß. Der Internetbestand beträgt derzeit laut einer Studie der Berkeley`s School of Information Management and Systems rund 170 terabytes.(22) Das ist der siebzehnfache Bestand der Printbestände der amerikanischen Library of Congress und er wächst täglich an. Abs. 12
Es ist aber sicher nicht gewollt und auch nicht sinnvoll, alles was an Information produziert wird in die Zukunft zu retten,(23) aber das, was in die Zukunft gerettet werden soll, ist nicht mehr und nicht weniger, als unser "kulturelles Erbe". Dringend nötig ist damit zuvorderst die Debatte darüber, was unter diesem Begriff im digitalen Zeitalter zu verstehen ist und was also für zukünftige Generationen erhalten werden muss. Im Anschluss müssen angemessene rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen geschaffen werden,(24) um den Schutz des digitalen Erbes sicherzustellen, wobei als zentrales Element in der Archivgesetzgebung und in der gesetzlichen oder freiwilligen Abgabe an Bibliotheken,(25) Archive, Museen und andere öffentliche Magazine auch das digitale Erbe enthalten sein muss.(26)Abs. 13
Damit wir nicht als "das dunkle Zeitalter"(27) in die Geschichte eingehen, müssen die Regierung, Urheber, Verleger, und andere für das kulturelle Erbe relevante Institutionen(28) nachhaltige Anstrengungen unternehmen, um den geschilderten "Schwellbrand" zu löschen, bevor er nicht mehr zu löschen ist und das digitale kulturelle Erbe unwiderruflich verloren ist.
JurPC Web-Dok.
278/2004, Abs. 14


Fußnoten:

(1) http://www.anna-amalia-bibliothek.de/
(2) Jan und Aleida Assman und ihr Konzept, vom kulturellen Gedächtnis als Grundlage von Gemeinschaft und Kultur.
(3) Umfassende Informationen zu den Archiven lassen sich in dem einzigartigen weblog auf der Seite: http://archiv.twoday.net/ finden
(4) Weigert, Das Internet als kulturelles Gedächtnis, http://www.tab.fzk.d e/de/brief/brief21.pdf
(5) Vgl. D. Zimmer, Das große Datensterben, Aufsatz in der Zeit vom 18.11.1999 Seite 45.
(6) Vgl. M. Osten, Das geraubte Gedächtnis - Digitale Systeme und die Zerstörung der Erinnerungskultur, Frankfurt 2004.
(7) USA: www.digitalpreservation.org , Deutschland: www.langzeitarchivierung.de
(8) Programm zu finden unter: www.digitalpreservation.gov
(9) zu finden unter: www.nla.gov.au
(10) zu finden unter: http://pandora.nla.gov.au/ index.html
(11) zu finden im Volltext auf der Seite: www.unesco.ch /biblio-d/dokumente_frame.htm
(12) zu finden unter: http://www.interpares.org/
(13) zu finden unter: http://www.erpanet.org
(14) Übersicht bei: www.zeit.de/digbi b/literaturimweb.html
(15) siehe: http://www.dl-forum.de
(16) http:// www.dlib.org/dlib/april04/dobratz/04dobratz.html
(17) Informationen zu Nestor unter www.langzeitarchivierung.de
(18)http://www.langze itarchivierung.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=25&mode=thread&order=0&thold=0
(19) http://www.unesco.ch/pdf/132540dt.doc
(20) wer aktuell über die Veranstaltung informiert werden möchte, bitte kurze Mail an: euler@ira.uka.de, Informationen auch unter: http://www.junge-juristen.de/
(21) die Seite: http://n estor.sub.uni-goettingen.de/calendar/index.php listet alle aktuellen Veranstaltungen auf.
(22) siehe: http://www.isn-oldenburg.de/nestor-workshop/sliedes/sliedes_n euroth.pdf Folie 8.
(23) Nach einer Auffassung ist die Kunst des Vergessen mindestens ebenso wichtig wie die Erinnerungskunst, so H. Weinrich, Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.
(24) Vorschläge hierzu von Zimmermann: http://www.isn-oldenburg.de/nestor-workshop/slides/slides_zimmermann.pdf
(25) So in Deutschland für Druckwerke § 18 DbiblG iVm PfStV und ähnliche Regelungen in Landesgesetzen.
(26) Vgl. Artikel 8 Charta zum Erhalt des digitalen Erbes der UNESCO, Fundstelle FN 5.
(27) Danny Hillis: http://www.longno w.org/about/board/hillis.htm
(28) Vgl. Artikel 11 Charta zum Erhalt des digitalen Erbes der UNESCO, Fundstelle FN 5.
*Ellen Euler, LL.M., hat im Jahr 2003 die Erste Juristische Staatsprüfung absolviert und ist derzeit Rechtsreferendarin beim LG Karlsruhe.
[online seit: 26.11.2004
geänderte Version seit: 10.12.2004
]
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs.
Zitiervorschlag: Euler, Ellen, "Eine nationale Kulturkatastrophe..." - JurPC-Web-Dok. 0278/2004