Maximilian Herberger *Elektronische Publikation von Gesetzen - Eine Chance für die Gerechtigkeit? **JurPC Web-Dok. 340/2003, Abs. 1 - 58 |
Majestät, verehrte Festversammlung! | JurPC Web-Dok. 340/2003, Abs. 1 |
Wir haben eben in einer Sequenz von beeindruckenden Bildern gesehen, wer in diesem schönen neuen Gebäude sein Zuhause finden wird. Es sind (wie Juristen spontan sagen würden) "natürliche" und "juristische" Personen. Das Profil der Unternehmen, die hier arbeiten, konnten wir in gelungenen Visualisierungen kennenlernen. Welche Mitbürgerinnen und Mitbürger an diesem Ort leben werden, wissen wir hier und heute noch nicht in gleicher Weise. Sicher aber ist, daß diese Symbiose von öffentlicher und privater Existenz den Charakter dieses Hauses prägen wird - und dafür ist es auch vom Architekten-Team in einer Weise konzipiert worden, die den Geist dieses Zusammenlebens als Möglichkeit Gestalt werden läßt. | Abs. 2 |
Was ist allen Menschen gemeinsam, die an diesem Ort einen Teil ihres Lebens verbringen werden - sei es privat oder beruflich? Das Leben wird viele Gemeinsamkeiten stiften, von denen wir im Vorhinein noch nichts wissen können. Aber eines dürfen wir jetzt doch schon als sicher annehmen: | Abs. 3 |
Das Recht wird das Leben aller hier in diesem Hause mit prägen. | Abs. 4 |
Man darf sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: | Abs. 5 |
Alle hier werden "Konsumenten" von Recht sein. | Abs. 6 |
Das ist so, weil das Recht die Bedingungen für das öffentliche, wirtschaftliche und private Leben wesentlich mit gestaltet und weil es Güter gibt, die das Recht erst hervorbringt, Güter, von denen wir in ähnlicher Weise leben wie von anderen Gütern des täglichen Bedarfs. Beispielsweise ist auch dieses Gebäude mit vom Recht "gebaut" worden: | Abs. 7 |
- Es gibt Eigentum daran nur, weil es Recht gibt. - Wohnungen und Büro-Raum können wir nur mieten, weil es Recht gibt. - Und sollten auch Konstrukte wie "sale and lease back" eine Rolle spielen, so verdanken sich solche vielleicht steuerrechtlich interessanten Möglichkeiten gleichfalls dem Recht, es gibt sie nicht als naturwüchsige Möglichkeit außerhalb des Rechts. | Abs. 8 |
Wir leben also alle (übrigens nicht nur in diesem Gebäude) mit vom Recht. | Abs. 9 |
Deshalb gehört es zur Daseinsvorsorge, uns das Recht zu gewähren, als eine Möglichkeit des Umgangs mit vom Recht gestifteten Gütern. Aus diesem Grunde sind wir alle "Konsumenten" von Recht, Verbraucher eines uns von unserer staatlichen Gemeinschaft gewährten Guts, auf das wir aber zugleich einen Anspruch haben als Mitbegründer und Träger dieser von uns gemeinsam gelebten Gemeinschaft. | Abs. 10 |
So bildet das Recht einen wesentlichen Bezugspunkt für unser aller Leben und auch für das Leben in diesem Hause. | Abs. 11 |
Das Recht existiert für uns alle aber erst, wenn es durch Publikation in Kraft gesetzt worden ist, wenn es - daher das Wort "Publikation" mit der lateinischen Wurzel "publicus" (für "öffentlich") - das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat durch amtliche Bekanntmachung. | Abs. 12 |
Vor diesem Akt der Publikation gibt es kein staatliches Recht. | Abs. 13 |
Dies ist eine wesentliche historische Errungenschaft des "Kampfes um´s Recht". | Abs. 14 |
Im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit haben sich die Könige dafür verantwortlich gefühlt, das Recht zu publizieren. Dabei geht es um mehr als die bloße bürokratische Organisation der Verteilung von Informationen. Berührt ist vielmehr ein elementares Prinzip der Gerechtigkeit. | Abs. 15 |
Blicken wir ein wenig in die Geschichte, um zu erfahren, was damals die Monarchen vom Ethos der Gerechtigkeit her dazu bewegt hat, der Publikation von Gesetzen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. | Abs. 16 |
Wenn wir uns auf diese Reise in das Reich unserer kollektiven Erinnerungen begeben, so lautet eine zentrale Frage zu Beginn: | Abs. 17 |
Was bedeutet uns "Publikation"? | Abs. 18 |
Wir "modernen" Menschen von heute neigen zu der Annahme, "Publikation" ("Veröffentlichung") sei identisch mit dem Abdruck des Gesetzes in einem Gesetzblatt. Und viele (auch politisch Verantwortliche) meinen außerdem zusätzlich, mit diesem Abdruck sei dem Postulat der Veröffentlichung genüge getan. Schließlich habe der Bürger anschließend die Möglichkeit, sich vom Text des Gesetzes die nötige Kenntnis zu verschaffen. Die Vertreter dieser Auffassung, die heute teilweise durchaus noch populär ist, sehen es als eine "Holschuld" der Rechtsunterworfenen an, sich den Text des Gesetzes zu besorgen. | Abs. 19 |
In welch angenehmem Kontrast zu dieser Auffassung steht die Sorge der früheren Könige, das Recht zu den Untertanen zu bringen. | Abs. 20 |
Da bemüht sich der französische König darum sicherzustellen, daß das Gesetz die Bürger auch noch im entferntesten Winkel seines Reiches erreicht. Er ordnet an, daß Boten mit dem Auftrag ausgesandt werden, den Gesetzestext in Stadt und Land zu verlesen. Und damit niemand in die Lage gerät, einem unbekannten Gesetz gehorchen zu müssen, berechnet der König zugleich, wann reitende Boten von Paris aus die Chance haben, das Gesetz bis an die Grenzen des Reiches zu tragen. Am Ende des Mittelalters setzt er dafür drei Wochen an. Und er befiehlt, daß erst nach Ablauf dieser Frist der Verstoß gegen das Gesetz bestraft werden kann. Denn nur dann haben die Untertanen die Chance gehabt zu wissen, welchen Gehorsam der König von ihnen erwartet. | Abs. 21 |
Im gleichen Geist wie die Gesetzesboten in Frankreich verkündeten in England die Ausrufer, die "town crier" das Recht. Sie begannen ihre Verkündungen mit dem Ruf "oyez, oyez" (was aus dem Alt-Französischen entlehnt bedeutet "Hört zu, hört zu") und endeten mit der Formel "God save the Queen, oyez, oyez". | Abs. 22 |
Ist all das schon eine Frage der "Gerechtigkeit der Könige"? | Abs. 23 |
Sicher müssen wir uns vor rückwärtsgewandten Romantisierungen hüten. Natürlich war man immer auch sehr direkt an Gehorsam interessiert. Man wollte die Effektivität des Gesetzes durch Bekanntmachung sicherstellen. Und doch war gewiss auch der Gedanke der Fairness mit im Spiel, weil gilt: | Abs. 24 |
Gehorsam darf man fairerweise nur von einem Untertanen erwarten, der die Chance hatte zu wissen, was man von ihm verlangt. | Abs. 25 |
Alles andere wäre "dog law", wie der englische Rechtsphilosoph Jeremy Bentham es auf den Begriff gebracht hat: Oft genug wird der Hund bestraft und weiß nicht warum, weil der Mensch ihm vorher nicht verständlich gemacht hat, was er von ihm an Gehorsam erwartet. | Abs. 26 |
So zu handeln ist unfair. Mit diesem Gedanken ist der Brückenschlag zur Gerechtigkeit gelungen. | Abs. 27 |
Denn: | Abs. 28 |
Ein wesentliches Element von Gerechtigkeit ist Fairness. | Abs. 29 |
Deshalb schuldet der Gesetzgeber, der gerecht sein will, seinen Untertanen (oder heute: "seinen" Bürgern) die Chance, das Gesetz in angemessener Weise kennenlernen zu können. | Abs. 30 |
Wir haben gesehen, daß die Sorge um die Rechte Publikation der Gesetze in früheren Zeiten eine ernste Sorge der Königinnen und Könige war. | Abs. 31 |
Bewegt uns diese Sorge heute noch in ähnlicher Weise? | Abs. 32 |
Viele Beobachtungen deuten darauf hin, daß dies nicht mehr überall in gleicher Weise der Fall ist. Manche sehen die Gesetzespublikation als eine bloß organisatorische, technische Frage an. Und gerade deswegen sollten wir uns von der Sorge der Vergangenheit um die rechte Bekanntmachung der Gesetze inspirieren lassen, einer Sorge übrigens, die manche Monarchen (die besten übrigens) als Gewissenspflicht empfunden haben. | Abs. 33 |
Die Sorge um die rechte Publikation der Gesetze hat weitere Konsequenzen, die heute teilweise in Vergessenheit geraten sind. | Abs. 34 |
Das menschliche Gedächtnis ist schwach. Was man einmal über das Recht lernen konnte und gelernt hat, gerät leicht in Vergessenheit. Deswegen wurden die Boten des Rechts immer wieder erneut ausgesandt, um das Recht in Erinnerung zu rufen. | Abs. 35 |
So las Esra dem jüdischen Volk das Gesetz Moses vor, ein Akt der Erneuerung des nicht mehr ausreichend Gewussten: | Abs. 36 |
"Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeine, beide Männer und Weiber, und alle, die es vernehmen konnten, am ersten Tage des siebenten Monden, und las drinnen auf der breiten Gasse, die vor dem Wassertor ist, von licht Morgen an bis auf den Mittag, vor Mann und Weib und wer es vernehmen konnte. Und des ganzen Volks Ohren waren zu dem Gesetzbuch gekehrt." (Buch Nehemia, Kapitel 8, Vers 2 und 3). | Abs. 37 |
Man sah sich also in der Verantwortung, das Recht in der Erinnerung des Volkes zu bewahren und zu verankern. | Abs. 38 |
Alle diese Aktivitäten hatten noch einen weiteren Aspekt. Man sandte autorisierte Boten aus, um sicher zu sein, daß der publizierte Gesetzestext der authentische Gesetzestext sei. Um das zu garantieren, wurden die Boten durch einen Eid verpflichtet. | Abs. 39 |
Ziehen wir in unserem Bemühen, aus den früheren königlichen Tugendkatalogen zu lernen, eine Zwischenbilanz: | Abs. 40 |
Die Herrscher wußten sich in ihrer Sorge um das Recht verpflichtet | Abs. 41 |
- den Untertanen durch Publikation Kenntnis vom Recht zu bringen, - die dauerhafte Erinnerung an das geltende Recht durch Erneuerung der ursprünglichen Bekanntmachung sicherzustellen, - die Authentizität des Gesetzestextes auf Dauer zu garantieren, ihn in seiner Integrität zu bewahren. | Abs. 42 |
Das war, wie unser französischer Kollege Christian Scherer es einmal in scheinbar paradoxer Form zum Ausdruck gebracht hat, das "Internet im Mittelalter". Damit wollte er sagen: | Abs. 43 |
Das Internet und die moderne Technologie bieten die Möglichkeit, den alten Traum in Bezug auf die Publikation des Rechts in zeitgemäßer und vielleicht sogar wirksamerer Form als damals zu verwirklichen. | Abs. 44 |
Machen wir (in Transformation auf unsere demokratische Gesellschaft) die Probe auf´s Exempel. | Abs. 45 |
Was sind unsere Zielsetzungen heute wie damals? | Abs. 46 |
- Wir wollen allen Bürgerinnen und Bürgern durch Publikation Kenntnis vom Recht bringen. | Abs. 47 |
Es leuchtet unmittelbar ein, daß das Internet dafür ein besonders geeignetes Medium ist. Und wenn wir uns für einen Augenblick auf ein paradoxes Gedankenexperiment einlassen, meine ich sogar, daß die Gesetzgeber früherer Zeiten das Internet mit den Möglichkeiten der elektronischen Publikation ihren reitenden Boten und den "town criers" vorgezogen haben würden. | Abs. 48 |
- Wir wollen die dauerhafte Erinnerung an das geltende Recht durch Erneuerung der ursprünglichen Bekanntmachung sicherstellen. | Abs. 49 |
Auch für diese Zielsetzung bietet das Internet geeignete Instrumente. Die modernen Rechtsverlagen geläufigen Stichworte "Push-Dienst" oder "Newsfeed" mögen genügen, um dies zu veranschaulichen. Sie können nicht nur der aktuellen Information dienen, sie sind auch geeignet, Vergessenes wieder in Erinnerung zu rufen. Was bloß so technisch klingt, ist mehr als bloße Technik. Gerade die moderne Zeit in ihrer Schnell-Lebigkeit erfordert als Gegengewicht zum ritualisierten Vergessen Möglichkeiten der institutionalisierten Erinnerung. | Abs. 50 |
- Wir wollen die Authentizität des Gesetzestextes auf Dauer garantieren, ihn in seiner Integrität bewahren. | Abs. 51 |
Was in alter Zeit das Siegel oder das Vertrauen auf die Pflichttreue des reitenden Boten war, ist heute funktional äquivalent oder sogar effektiver darstellbar mit Hilfe der elektronischen Signatur-Technologie. Ein Gesetzestext, der über das Internet die Menschen im Lande erreicht, kann durch die elektronische Signatur in seiner Authentizität und Integrität so abgesichert werden, daß keine Zweifel verbleiben. | Abs. 52 |
Mein Thema lautete in Frageform: | Abs. 53 |
Elektronische Publikation von Gesetzen - Eine Chance für die Gerechtigkeit? | Abs. 54 |
Ich meine, wir können auf diese Frage mit einem engagierten und befreienden "Ja" antworten. Wovon frühere Zeiten mit ihren reitenden Boten, "Stadtschreiern" und Siegeln träumten, das ist nun eine reale elektronische Internet-Möglichkeit geworden. | Abs. 55 |
Es darf uns aber die Technik nicht unseren klaren Verstand vernebeln: Die Hoffnungen in Bezug auf die Publikation von Recht beruhen auf institutionellen Garantien, die die Technik allein nicht bieten kann. Gefragt ist das Gefühl der persönlichen Verantwortung für diese Kundmachung und die Bewahrung des Rechts. Ich meine, es wäre für unser Europa keine schlechte Chance, sich an die Institutionen zu erinnern, die sich in alten Zeiten für die Publikation des Rechts verantwortlich fühlten. Sollten dann diese Institutionen oder ihre Nachfolger dieses Erbe als lebendige Traditionsverpflichtung empfinden können, wäre viel für Europa gewonnen. | Abs. 56 |
Denn eines ist sicher: | Abs. 57 |
Die Publikation des Rechts hat mit Gerechtigkeit zu tun - und das gilt auch in der elektronischen Welt.
| JurPC Web-Dok. 340/2003, Abs. 58 |
* Dr. Maximilian Herberger ist Professor für Bürgerliches Recht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken. Er ist Direktor des Instituts für Rechtsinformatik und Vorsitzender des Deutschen EDV-Gerichtstages e.V. ** Der vorliegende Beitrag gibt den Text des Vortrags wieder, den Professor Dr. Maximilian Herberger am 19. November 2003 anlässlich der Eröffnung des neuen Gebäudes von SDU in Den Haag in Anwesenheit der niederländischen Königin gehalten hat. |
[online seit: 15.12.2003] |
Zitiervorschlag: Autor, Titel, JurPC Web-Dok., Abs. |
Zitiervorschlag: Herberger, Maximilian, Elektronische Publikation von Gesetzen – Eine Chance für die Gerechtigkeit? - JurPC-Web-Dok. 0340/2003 |